Italopop

Zwischen Leichtigkeit und Sozialkritik

„Felicita“, „Ti amo“, „Sara perche ti amo“: Seit Jahrzehnten fluten eingängige Hits aus Italien die Sommercharts. Sie schmecken nach Gelato, riechen nach Sonnencreme und erinnern an Urlaub. Doch die oft seichten Popnummern versperren den Blick auf die vielen sozialkritischen Interpreten, die die italienische Popmusik maßgeblich geprägt haben.

Mentholrasiercreme, blauer Nadelstreifanzug, Kaffee aus der Bialetti und Fiat 500: Toto Cutugno besingt in seinem Lied „L’Italiano“, das vielen unter „Lasciatemi Cantare“ ein Begriff ist, alle denkbaren italienischen Stereotype. Schamlos – aber die Melodie stimmt. Cutugnos Song wurde 1983 zum internationalen Hit und genießt heute noch große Bekanntheit.

Ähnlich funktionieren die Lieder von Al Bano und Romina Power. Das Duo scheut sich nicht vor einfachen Reimen wie „amore“ auf „dolore“ und sorgt vor allem im deutschsprachigen Raum für Begeisterung. Cutugno und das Poppaar gehören zu jenen Interpreten und Interpretinnen, die Dolce Vita musikalisch und vor allem lukrativ exportieren.

Wandbild des italienische Sängers Fabrizio De Andre
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Weltbekannt in Italien: Fabrizio de Andre auf einem Mural in Scampia, Neapel

Tiefgang mit Leichtigkeit

Doch es gibt auch ein musikalisches Italien abseits des Klischees. Künstlerinnen und Künstler, die italienische Musik zwar nicht immer erfolgreich im Ausland repräsentieren, aber mit ihren sozialkritischen Songs die musikalische DNA Italiens prägen. Das weiß Eric Pfeil, er hat einen musikalischen Reiseführer geschrieben. In „Azzurro“ reist er in „100 Songs durch Italien“. Es fange bei der Genrebezeichnung an, sagt der Musikjournalist im Gespräch mit ORF.at. Den Begriff Italopop nutze man in Italien nicht, vielmehr musica leggera, auf Deutsch: leichte Musik. „Düsteres und Komplexes wird nicht ausgeklammert, aber man verpackt das in leichte Gesten“, so Pfeil. Soll heißen: Tiefgehende Texte treffen auf eingängige Melodien.

Diesem Credo der musica leggera haben sich eine Reihe von italienischen Interpreten und Interpretinnen verschrieben, die mit ihren Songs auf die Missstände in ihrem Heimatland aufmerksam machten und machen. Und davon gibt es in Italien genug. Es sind der politische Katholizismus, die Mafia, der Neofaschismus und die Korruption, die sie besungen und damit den jeweiligen Nerv ihrer Zeit getroffen haben. Genannt werden sie Cantautori. Sie waren ab den frühen 60er Jahren die Singer-Songwriter Italiens, wie die Wortkreuzung cantante (dt. „Sänger“) und autore (dt. „Autor“) erahnen lässt.

Singen, was Italien fühlt

Mit seinem selbst geschriebenen Welthit „Nel blu dipinto di blu“, auch bekannt als „Volare“, galt Domenico Modguno 1958 als Pionier der Cantautori, war es bis dahin doch Usus, dass Sänger keine Songschreiber waren. Als Erster seiner Zunft wird ebenso Luigi Tenco gehandelt, der sich 1967 beim berühmten Sanremo-Festival, dem Vorbild des Eurovision Song Contest, das Leben nahm, weil er mit „Ciao amore, ciao“ nicht in das Finale eingezogen ist. Tenco wurde zur dunklen Ikone der Cantautori – wegen seines antimilitaristischen Songs über das Abschiednehmen, und auch, weil sein Freitod den Stellenwert der Musik im Leben vieler Italiener und Italienerinnen deutlich macht.

Tenco gehörte der Genueser Schule an, einer Gruppe von Künstlern und Künstlerinnen, die das italienische Autorenlied erfunden haben – ebenso Fabrizio de Andre. Er gilt heute noch, 23 Jahre nach seinem Tod, als einer der größten Cantautori. Und: Als jemand, der in seinen Songtexten Partei für Diskriminierte ergriff – von bedrohten sardischen Hirten bis zu Homosexuellen. Ein Thema, das auch für Lucio Dalla von Bedeutung war. Als Katholik und jemand, dessen Sexualität heftig diskutiert wurde, vereinte der Cantautore die Widersprüche Italiens in sich – auch weil der Norden und Süden Italiens seit jeher im Clinch liegen, jede Region ihre eigenen Stimmen hat und Dalla – aus dem Norden, der Emilia-Romagna kommend – sich der Liedkultur Neapels bediente, wie etwa in seinem Welthit „Caruso“, den er stellenweise neapolitanisch singt.

Cover des Buches Azzurro von Eric Pfeil
KiWi Verlag
Eric Pfeil: „Azzurro“. Mit 100 Songs durch Italien. Kiwi,368 Seiten, 14,40 Euro

Die Liste an Cantautori ist lang. Was sie eint, ist, dass sie mit ihren sozialkritischen Songs in den 70er Jahren ihre Hochzeit hatten: Es waren die anni di piombo, die bleiernen Jahre. Italien war geprägt von neofaschistischer und linksradikaler Gewalt. Viele der italienischen Singer-Songwriter verarbeiteten das nationale Trauma Italiens in ihren Songs und werden dafür heute noch als Helden verehrt.

Um ein italienisches Trauma, wenngleich von keiner solchen Schwere, handelt übrigens auch „Azzurro“. Adriano Celentano, der Popstar und Entertainer Italiens schlechthin, singt mit Reibeisenstimme über die Geliebte, die am Strand weilt, während der Protagonist in der Gluthitze der Stadt gefangen ist und nicht einmal einen „Priester für ein Schwätzchen“ findet („neanche un prete per chiacchierar“). Der Welthit stammt aus der Feder des auch hierzulande berühmten, jazzgeprägten Cantautore Paolo Conte. „Azzurro“ kann man neben mehr als 200.000 weiteren italienischen Songs, die in den Jahren 1900 bis 2000 erschienen sind, kostenlos auf „Canzone Italiana“, einer Website des italienischen Kulturministeriums, anhören.

Frauen in der italienischen Popmusik

In der männerdominierten musica leggera darf nicht auf weibliche Cantautrici vergessen werden. Im erzkatholischen Italien sorgten sie oft durch das Besingen sexueller Selbstermächtigung für Skandale. Zu einem Rolemodel vieler Italienerinnen wurde etwa Mina in den Sechzigern. Sie ist nicht nur durch ihre Stimme, die drei Oktaven umfasste, aufgefallen, sondern auch, weil sie in „Il cielo in una stanza“ über den postkoitalen Müßiggang eines Paares und somit als Erste ihrer Zunft über Sex gesungen hat.

Rund zwanzig Jahre später war es Gianna Nannini, deren internationaler Hit „Bello e impossibile“ als frühes Outing gedeutet wurde. Nannini entsprach bewusst nicht den Vorstellungen, wie ein weiblicher Popstar Italiens der Achtziger auszusehen und sich zu verhalten hatte, vielmehr ging es ihr um feministische Agenden.

Skandalfrei und blitzsauber dagegen erscheint Laura Pausini. Die italienische Sängerin bekennt sich nicht nur öffentlich zum römisch-katholischen Glauben, sondern vertritt auch eine Generation von, glatten, international vermarktbaren Superstars, die zunehmend ab den späten Achtzigern und frühen Neunzigern in Erscheinung traten. Auch der sehr am angloamerikanischen Musikmarkt orientierte Eros Ramazotti gehört diesem Typ italienischer Popstars an.

Beide Pole italienischer Popmusik

Ihre Bühne ist das Festival della Canzone Italiana in Sanremo. Bei der traditionsreichen Veranstaltungsreihe in Ligurien werden seit 1951 die Sommerhits gemacht. „Eine Ware, die in Italien enorm wichtig ist. Dort wird die größte Handwerkskunst Italiens, die leichte Musik, in Formvollendung zelebriert“, sagt Autor Pfeil. Einmal jährlich tritt bei der Liveübertragung im italienischen öffentlich-rechtlichen Radiotelevisione Italiana Italiens Popnachwuchs gegeneinander an, und das bei Quoten wie bei Topfußballspielen, so Pfeil. „Man hat Favoriten, alte Veteranen kommen auf die Bühne, singen mit den Jungen zusammen, es gibt Skandälchen und Aufruhr, es ist totaler Irrsinn.“

In Sanremo gab auch schon der Grenzgänger Jovanotti seine Songs zum Besten, der sich irgendwo zwischen hochkommerziellem Pop und Autorenlied, in welches er politische Statements verpackt, bewegt. An den Stränden von Lignano, Rimini und weiteren touristischen Hochburgen feiert der von Rap und Hip-Hop beeinflusste Popstar heuer zum zweiten Mal seine „Jova Beach Party“.

Fans bei einem Konzert des Musikers Jovanotti
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Mit Großevents gegen die Pandemieerinnerungen: Jovanotti feiert den Sommer in Lignano

Bis heute ist Sanremo also ein Festival, das die beiden Pole italienischer Popmusik vereint: Als Bühne für echte Cantautori und ebenso international vermarktbare Superstars. Es bringt auch Newcomer auf die Bühne, die das Erbe früherer Cantautori durch gesellschaftskritische Songtexte forttragen.

Musik gegen Krise

Die 20-jährige Künstlerin Madame verbindet das Erbe der textstarken italienischen Canzone mit Hip-Hop. Die queere Rapperin hat für ihren Song „Voce“ im vergangenen Jahr den Preis für den besten Text in Sanremo erhalten. Ihr Song, der auf Deutsch „Stimme“ heißt, kann als Ode an eben jene gelesen werden, oder als Liebeserklärung an eine Frau.

Mit den Cantautori Dalla und Conte aufgewachsen ist der Künstler Mahmood, der nicht nur 2019, sondern auch heuer beim Sanremo-Festival den ersten Platz belegte. So wie Dalla ist auch Mahmood bekennender Christ und homosexuell. Sein Sieg 2019 entfachte zudem eine politische Diskussion über Identität und darüber, wer „echter“ Italiener ist. Matteo Salvini kritisierte, dass der Sänger mit ägyptischem Vater und sardischer Mutter mit seinem Song „Soldi“ als Sieger Sanremos und damit Teilnehmer des Eurovision Song Contest hervorging.

Als „Zukunft“ der italienischen Musik macht Autor Pfeil auch das Duo Colapesce Dimartino aus. Die von Indierock beeinflussten Songschreiber haben im vergangenen Jahr den Sommerhit schlechthin geliefert. In „musica leggerissima“ singt das Duo, man möge leichte Musik auflegen, um in kein dunkles Loch zu fallen. Im von der Pandemie gebeutelten Italien wurde der Song zum Strandhit des Jahres. „Er bringt das Verhältnis der Italiener zur leichten Musik, und wie sie damit auf schwere Zeiten reagieren, perfekt auf den Punkt“, sagt Pfeil.

In einem Land, in dem Musik einen so hohen Stellenwert hat, ist sie also Antwort auf Herausforderungen. In Italien ist Singen Lebensgefühl, Musik nahezu Religion, das Canzone so etwas wie nationales Kulturgut. Und: Musik ist der Kitt in der Krise.