Eine Gasaufbereitungsanlage in Russland
Reuters/Vladimir Soldatkin
Gasexporte

Russland braucht Europa

In Europa geht die Angst um, Russland könnte im Zuge des Ukraine-Krieges den Gashahn zudrehen – mit fatalen Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft. Tatsächlich sind Österreich und einige andere Staaten abhängig von russischem Gas. Allerdings braucht auch Moskau Europa als Absatzmarkt, so eine Energieexpertin. Das für Europa bestimmte Gas rasch in andere Weltregionen umzuleiten ist technisch schwierig.

Seit Donnerstag fließt wieder russisches Erdgas über die Pipeline „Nord Stream 1“ nach Europa. Während der zehntägigen Wartungsarbeiten herrschte in Europa Sorge, Moskau könnte den Gasfluss über die unter der Ostsee verlaufenden Leitungen komplett einstellen. Trotz der Wiederaufnahme der Lieferungen über „Nord Stream 1“ zeigt sich die Politik weiter alarmiert.

Die Situation bleibe angespannt, sagte Klimaministerin Leonore Gewessler (Grüne). „Russland schürt ganz bewusst Unsicherheit in Europa. So treibt (Russlands Präsident Wladimir, Anm.) Putin die Gaspreise“, so Gewessler, die darauf verwies, dass die Pipeline nur zu rund 40 Prozent ausgelastet sei. Deutschlands Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) legte am Donnerstag einen neuen Energiesparplan vor. Den Beteuerungen des Kreml, Russland sei „ein sehr wichtiger und unverzichtbarer Bestandteil der europäischen Energiesicherheit“, will Habeck nicht glauben: „Russland erweist sich zunehmend als Unsicherheitsfaktor im Energiesystem“, sagte der Grünen-Politiker.

„Russland kann Bogen nicht überspannen“

2021 lieferte Russland fast 40 Prozent des europäischen Erdgases, einzelne Mitgliedsstaaten wie Österreich, Deutschland, Italien und Ungarn sind besonders abhängig. Das Institut für Höhere Studien (IHS) bezeichnete den Ukraine-Krieg und den Ausfall russischer Gaslieferungen am Donnerstag als größte Gefahr für die Entwicklung der heimischen Wirtschaft.

Arbeiter vor Pipelines der „Nord Stream 1“-Gaspipeline in Lubmin
Reuters/Hannibal Hanschke
Seit Donnerstag fließt wieder russisches Gas durch die Pipeline „Nord Stream 1“

Die deutsche Energieökonomin Claudia Kemfert sieht in der wieder angelaufenen Gaslieferung durch „Nord Stream 1“ allerdings auch einen Beleg für die russische Abhängigkeit von Gasexporten nach Europa. „Dass Russland wieder Gas liefert – wenn auch gedrosselt –, schafft für den deutschen Gasmarkt Entspannung. Es ist aber auch Ausdruck davon, dass Russland den Bogen nicht überspannen kann, insbesondere aus wirtschaftlichen, aber vor allem politischen Gründen“, sagte sie.

„Das Verhalten Russlands zeigt, wie abhängig Russland selbst von den Gasverkäufen nach Europa ist“, sagte die Energieexpertin des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Ein kompletter Lieferstopp würde erhebliche Einnahmeverluste für Russland bedeuten. „Dieses Risiko kann Russland nicht eingehen.“

„Russland erweist sich als Unsicherheitsfaktor“

Nach der Wiederaufnahme der russischen Gaslieferungen über die Pipeline „Nord Stream 1“ hat Deutschlands Wirtschaftsminister Robert Habeck vor einer trügerischen Sicherheit gewarnt. Man dürfe nicht davon ausgehen, dass die Lieferungen über derzeit 40 Prozent der Leitungskapazitäten stetig so weitergingen, sagte Habeck in einer Onlinepressekonferenz. „Russland erweist sich zunehmend als Unsicherheitsfaktor im Energiesystem“, so Habeck. Der Kreml habe vorgeschobene Gründe genannt und technische Aspekte politisiert, um nur 40 Prozent zu liefern. Man wisse, dass genug Turbinen für den Pipeline-Betrieb verfügbar seien.

Gasumleitung nicht so schnell möglich

Dem US-Amt für Energiestatistik (EIA) zufolge gingen drei Viertel aller russischen Gasexporte im Vorjahr an europäische Staaten. Die Einnahmen aus dem Öl- und Erdgasexport machen 45 Prozent des russischen Staatshaushaltes aus. Angesichts der EU-Sanktionen und der Unterstützung des Westens für die Ukraine sieht sich Moskau nach anderen Abnehmern für seine fossilen Rohstoffe um.

Wieder Gastransport durch „Nord Stream 1“

Nach zehntägigen Wartungsarbeiten fließt wieder russisches Erdgas durch die Pipeline „Nord Stream 1“. Die Pipeline sei zu etwa 40 Prozent ausgelastet wird, etwa so wie vor Beginn der Wartungsarbeiten. Grund zur einer gänzlichen Entwarnung gebe es allerdings noch nicht, die Lage sei weiterhin angespannt.

Bei einem Besuch in Teheran vereinbarte Russlands Präsident Putin jüngst eine Kooperation im Erdgassektor. Wichtiger, weil deutlich größer, ist aber China. Hier will Russland seine Gaslieferungen in den nächsten Jahrzehnten deutlich ausweiten, von derzeit 20 Milliarden Kubikmeter auf über 100 Milliarden.

Dazu für Europa bestimmtes Erdgas umzuleiten, ist aus technischen Gründen so rasch nicht möglich. Die meisten Felder, von denen Gas Richtung EU geliefert wird, sind nicht an Pipelines angebunden, die nach China bzw. in andere asiatische Staaten führen. Der Bau der entsprechenden Infrastruktur dürfte Jahre dauern.

Eine kurzfristige Möglichkeit sei der Export von Flüssiggas (LNG), so der Gasexperte Andreas Schröder vom Energiemarktforschungsdienst ICIS gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). „Russland könnte Gas von den Jamal-Feldern im äußersten Norden über das Jamal-LNG-Terminal mit Eisbrechern exportieren“, so der Experte. Eine Lösung für größere Mengen Gas sei das aber nicht. Denn die bestehende LNG-Infrastruktur sei bereits voll ausgelastet.

Investitionen schwer zu stemmen

Neben dem Faktor Zeit spielen auch die Kosten eine Rolle. Der Aufbau von Leitungsnetzen für den Erdgastransport ist teuer. Theoretisch könnte Russland neue Infrastruktur schaffen, um China und auch Indien in Zukunft mit Erdgas zu versorgen, sagte Margarita Balmaceda vom Davis Center for Russian and Eurasian Studies an der Harvard University der Deutschen Welle.

Wieder Gastransport durch „Nord Stream 1“

Nach zehntägigen Wartungsarbeiten fließt wieder russisches Erdgas durch die Pipeline „Nord Stream 1“. Die Pipeline sei zu etwa 40 Prozent ausgelastet, etwa so wie vor Beginn der Wartungsarbeiten. Grund zu einer gänzlichen Entwarnung gebe es allerdings noch nicht, die Lage sei weiterhin angespannt.

Die dafür notwendigen enormen Investitionen scheinen angesichts der Lage der russischen Wirtschaft allerdings unrealistisch. „Solche Projekte benötigen enorme Finanzmittel, und wenn die Finanzmittel fehlen, passiert nichts“, so Balmaceda.

Russlands Gasspeicher laut Experten voll

Laut Schröder haben es die russischen Gasunternehmen geschafft, die Produktion zu drosseln. Die russischen Speicher sind aber schon jetzt gut gefüllt. Offizielle Daten werden nicht veröffentlicht. Allerdings dürfte Russland sein Ziel, die Gasspeicher zu 100 Prozent zu befüllen, bereits im Sommer erreichen, sagte ICIS-Experte Schröder dem RND.

Der US-Milliardär und Investor George Soros ging Ende Mai davon aus, dass die russischen Gasspeicher bereits im Juli einen Füllstand von 100 Prozent erreichen. „Wenn er (Putin, Anm.) Europa nicht beliefert, muss er Quellen in Sibirien stilllegen“, schrieb Soros in einem Brief. Soros zufolge wären etwa 12.000 Quellen betroffen. Das Herunterfahren würde einige Zeit dauern, und seien sie einmal geschlossen, sei das neuerliche Öffnen aufgrund des Alters der Ausrüstung schwierig, so Soros.

Zwei weitere Möglichkeiten bleiben Russland noch: Zum einen die verstärkte Nutzung von Gas für die eigene Industrie sowie die Strom- und Energieerzeugung. Zum anderen das Abfackeln von überschüssigem Gas. „Das würde Russland aber nicht in großen Mengen machen“, sagte Schröder.