Talibankämpfer bei Checkpoint in Kabul
Reuters/Ali Khara
Ein Jahr unter Taliban

Afghanistan „im freien Fall“

Ein Jahr ist vergangen, seitdem die radikalislamischen Taliban inmitten des chaotischen Abzugs der US- und NATO-Truppen in Afghanistan die Macht übernommen haben. Menschenrechtsverletzungen stehen seither an der Tagesordnung. Doch auch Hunger, Armut und Naturkatastrophen plagen das Land. Afghanistan befinde sich „im freien Fall“, sagt der Journalist Emran Feroz zu ORF.at. Die Journalistin Waslat Hasrat-Nazimi befürchtet eine weitere Eskalation.

Für den Westen und insbesondere die USA war der rasante Siegeszug der Taliban in den letzten Wochen des 20-jährigen Einsatzes im Land ein Fiasko. Am 6. August fiel die erste Provinzhauptstadt in die Hände der Taliban, am 15. August Kabul. Zahlreiche Menschen versuchten daraufhin zu fliehen: Bilder des überfüllten Flughafens der afghanischen Hauptstadt sowie jene verzweifelter Afghanen, die an einem abhebenden Flugzeug festhalten, brannten sich in das kollektive Gedächtnis.

Bis zur symbolträchtigen Tötung des Al-Kaida-Chefs Aiman al-Sawahiri durch die USA in Kabul war Afghanistan fast gänzlich aus dem Scheinwerferlicht gerückt. Und das, obwohl sich das Land, das fast 39 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner zählt, seit August 2021 „im Absturz befindet“, wie der austroafghanische Journalist Feroz („Der längste Krieg“) sagt. Man habe den Eindruck, als ob Afghanistan „in einer Zange gefangen gehalten“ werde.

Menschen sitzen auf Dach eines Flugzeugs von Kam Air am Kabuler Flughafen 2021
APA/AFP/Wakil Kohsar
Die Bilder des chaotischen Abzugs der NATO-Truppen gingen vergangenes Jahr um die Welt

Auf der einen Seite werde die afghanische Gesellschaft von der internationalen Staatengemeinschaft mittels Sanktionen „im Kollektiv für den Ausgang des Krieges bestraft“, auf der anderen Seite leide sie unter den „neuen Taliban-Machthabern, die offensichtlich überhaupt kein Interesse haben, sich zu öffnen.“ Diese halten nämlich nach wie vor an der Scharia, der strengen Auslegung des islamischen Rechts, fest.

Hardliner am Hebel der Macht

Hoffnungen, dass die Taliban gemäßigter regieren könnten als während ihrer Herrschaft von 1996 bis 2001, sind längst verflogen. „Wer sich durchgesetzt hat, das ist ganz klar, das sind die Hardliner“, sagt Feroz. Dabei handle es sich um „die alte Garde um den Taliban-Führer Mawlawi Hibatullah Achundsada“. In der Bewegung gebe es in vielen Fragen zwar unterschiedliche Ansichten, bewaffnete Machtkämpfe suche man bei den Taliban trotz anderslautender Falschmeldungen aber vergeblich, so der Experte.

Buchhinweise

  • Emran Feroz: Der längste Krieg. 20 Jahre War on Terror. Westend Verlag, 224 Seiten, 18,00 Euro.
  • Waslat Hasrat-Nazimi: Die Löwinnen von Afghanistan. Der lange Kampf um Selbstbestimmung. Rowohlt Taschenbuch, 320 Seiten, 18,00 Euro. Erscheint am 16. August.

Tatsache ist, dass sich die Menschenrechtslage seit der Machtergreifung der Taliban enorm verschlechtert hat. Außergerichtliche Tötungen, Folter und Zwangsenteignungen zählen zu den zahlreichen Menschenrechtsverletzungen, die einem aktuellen UNO-Bericht zufolge auf die Taliban zurückzuführen sind.

Journalisten und Menschenrechtsaktivisten sowie Mitarbeiter der ehemaligen Regierung und der Sicherheitskräfte wurden zur Zielscheibe der Taliban. Auch gegen Angehörige ethnischer Minderheiten wie etwa Hazara und Tadschiken wurde und wird gewaltsam vorgegangen.

Bildung, Beruf, Burka: Frauen verzweifelt

Vor allem aber sind es Frauen und Mädchen, die unter der Taliban-Herrschaft leiden. „Eine Frau in Afghanistan zu sein bedeutet systematisch unterdrückt zu werden“, hält die deutsch-afghanische „Deutsche Welle“-Journalistin Hasrat-Nazimi („Die Löwinnen von Afghanistan“) fest.

Ihre Rechte wurden in so gut wie allen Lebensbereichen beschnitten: Frauen dürfen dieser Tage nur noch mit männlicher Begleitung reisen. In der Öffentlichkeit ist das Tragen einer Burka Pflicht. Mädchenschulen ab der siebenten Klasse ließen die Taliban entgegen ihrer Versprechungen vielerorts schließen. Auch einige Berufe bleiben Frauen versperrt. Außerdem wurde die Flucht vor häuslicher Gewalt erschwert, während Zwangsehen zunahmen.

Frau mit Burka in Kabul
APA/AFP/Ahmad Sahel Arman
Die Frauenrechte wurden im vergangenen Jahr sukzessive beschnitten – mit traurigen Folgen

Frauenproteste und der Sicherheitsfaktor

Der Kampf für Frauenrechte scheint angesichts der vielen Rückschläge so notwendig wie aussichtslos. Zu Ende ist er jedenfalls nicht. Proteste würden nun „in geschlossenen Räumen“ stattfinden, „wo sich Frauen versammeln, Schilder in die Höhe halten und dann Fotos davon verbreiten“, sagt Hasrat-Nazimi. Auf der Straße sind diese unmöglich geworden.

All das hinterlässt Spuren: „Wir wissen, dass die Suizidrate gestiegen ist. Dass Depressionen extrem gestiegen sind und dass viele sagen: ‚Ich sehe keinen Grund und keine Hoffnung mehr, weiterzuleben‘“, sagt die Journalistin, die dem Kampf um Selbstbestimmung durch Afghaninnen ein Buch widmete. Nirgendwo auf der Welt seien die Menschen so unglücklich wie in Afghanistan, heißt es auch in einer Studie des Meinungsforschungsinstituts Gallup.

Stimmung und Einstellung der Menschen sei aber stark von der jeweiligen Region abhängig, erklärt Hasrat-Nazimi weiter. „Es gibt Regionen – vor allem im früher stark umkämpften Süden und Südosten Afghanistans –, wo sich Frauen jetzt wohler fühlen.“ Vor allem der Faktor Sicherheit trage dazu bei – fielen doch zahlreiche Zivilisten in den Jahren des US- und NATO-Einsatzes (Drohnen-)Angriffen zum Opfer. Entschuldigt wurde das teils mit dem Kampf gegen den Terror. In der Bevölkerung machte sich darüber längst Unmut und Wut breit.

US-Schlag gegen al-Kaida wirbelt Staub auf

Unklar ist angesichts dessen auch, was die im August bekanntgewordene Tötung des Al-Kaida-Chefs al-Sawahiri durch einen US-Drohnenangriff in Kabul für Afghanistan bedeutet. Im Abkommen von Doha hatten die Taliban den USA im Gegenzug für den Truppenabzug zugesichert, Terrorgruppen keinen Rückzugsort zu bieten.

Nun werfen sich die USA und die Taliban, denen immer wieder enge Beziehungen zu al-Kaida nachgesagt werden, gegenseitig die Verletzung des Abkommens vor. Die USA beschuldigen die Taliban, Sawahiri Unterschlupf gewährt zu haben, die Taliban üben Kritik am Drohnenangriff. Ob die Tötung weitere Sanktionen zur Folge hat, wird sich erst zeigen. Aus den USA hieß es bereits, dass sich die Taliban für Sawahiris Anwesenheit verantworten müssten.

Jeder und jede Zweite von Hungersnot betroffen

Nicht nur deshalb ist die Stimmung im Land explosiv – Afghanistan befindet sich fortwährend im Krisenmodus. „Aufgrund einer Kombination von Faktoren, darunter eine zusammenbrechende Wirtschaft und anhaltende Dürre, besteht in ganz Afghanistan ein hohes Maß an akuter Ernährungsunsicherheit“, teilt die UNO-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) auf ORF.at-Anfrage mit.

Mädchen mit Wasserkanistern nach Erdbeben in Paktika
AP/Ebrahim Noroozi
Die Folgen des verheerenden Erdbebens in Paktika und Khost beschäftigen das Land weiterhin

Rund 20 Mio. Menschen sind laut einer Analyse des UNO-Welternährungsprogramms (WFP) vom Mai von akutem Hunger betroffen. Das Kinderhilfswerk UNICEF erwartet, dass heuer rund 1,1 Mio. Kinder an schwerer Auszehrung – der bedrohlichsten Form der Mangelernährung – leiden werden. Und erst im Juni wurde der Osten Afghanistans von einem verheerenden Erdbeben erschüttert, das über 1.000 Menschenleben kostete und Tausende obdachlos machte.

„Die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine verschärfen die Ernährungssicherheitssituation, treiben die Lebensmittelpreise auf neue Höchststände, erhöhen die Kosten für lebenswichtige landwirtschaftliche Betriebsmittel, insbesondere Düngemittel, und üben Druck auf die Länder in der Region aus, die Weizen nach Afghanistan liefern, sodass diese die Lebensmittelexporte einschränken und dem jeweiligen inländischen Bedarf Vorrang geben“, so die FAO zudem.

Taliban im Drogendilemma

Einnahmen bzw. lebensnotwendige Hilfsgelder aus dem Ausland fehlen unter der Taliban-Regierung, die von keinem Land der Welt anerkannt wird, am meisten. Die neun Milliarden US-Dollar der afghanischen Zentralbank, die großteils in den USA gelagert sind, sind immer noch eingefroren. Ein beträchtlicher Teil der überwiegend im Landwirtschaftssektor tätigen Bevölkerung gerät noch dazu in Bredouille, weil die Taliban-Regierung im Frühling per Dekret den Anbau von Mohn, aus dem Opium erzeugt wird, verboten hatte.

Bauer auf Mohnfeld in Kandahar
APA/AFP/Javed Tanveer
Den Mohnanbau ließen die Taliban verbieten, dabei beruht ein Zehntel der Wirtschaftsleistung auf dem Geschäft mit Opium

Der Anbau war zwar schon in der Vergangenheit illegal, das Drogengeschäft galt dennoch als wesentliche Einnahmequelle – auch die Taliban profitierten davon. Rund ein Zehntel der afghanischen Wirtschaftsleistung beruhte laut dem UNO-Büro für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) auf Opium. Der Drogenhandel laufe nach wie vor, das Verbot haue nicht hin, „weil die Machthaber den Bauern keine anderen Alternativen anbieten können“, so Feroz.

IS bereitet Taliban „Kopfzerbrechen“

Widerstand gegen die Taliban gebe es trotz der Missstände kaum, so der Afghanistan-Experte. „Scharmützel“ mit Rebellengruppierungen gebe es hauptsächlich im Norden des Landes, in den Provinzen Pandschschir und Baglan, so der Journalist. Für nachhaltigen Erfolg fehle es verbleibenden Rebellengruppierungen wie den National Resistance Forces (NRF) unter Ahmad Massoud – er ist der Sohn des bekannten Mudschahedin-Führers Ahmad Schah Massoud – aber an internationaler Unterstützung.

Ahmad Massoud, neben Bild seines Vaters Ahmad Shah Massoud, während einer Rede in Paris
APA/AFP/Christophe Archambault
Ahmad Massoud gilt als Anführer der Widerstandsgruppe NRF

„Es gibt einen Akteur, der sie (die Taliban, Anm.) ernsthafter bedroht und ihnen auch Kopfzerbrechen bereitet: Das ist die afghanische IS-Zelle“, sagt Feroz. Die Terrormiliz zeichnete in den vergangenen Monaten mehrfach für Anschläge auf die Taliban verantwortlich, immer wieder kamen bei IS-Anschlägen auch Zivilisten ums Leben. Die Miliz ist mit den Taliban verfeindet.

„Hier liegt die Vermutung nahe, dass ausländische Geheimdienste dem IS in irgendeiner Art und Weise unter die Arme greifen“, sagt der Journalist mit Verweis auf den pakistanischen Geheimdienst Inter-Services Intelligence (ISI), der die Taliban bisher eigentlich unterstützt hatte. Islamabad habe aufgrund von historischen Gegebenheiten seit jeher Probleme damit, dass „eine starke Zentralmacht in Kabul das Sagen“ habe.

Düsterer Ausblick

Dass sich am Machtgefüge in Afghanistan in naher Zukunft etwas ändern könnte, erwartet Feroz aber nicht. Das liege in der Natur der Machtpolitik, sagt er: „Sobald jemand die Macht hat, gibt er nur ungern ein Stück vom Kuchen ab, und das ist genau so bei den Taliban jetzt auch der Fall.“

Auch die Journalistin Hasrat-Nazimi glaubt nicht, dass sich für die Menschen im Land bald etwas zum Besseren wendet. Vielmehr fürchtet sie eine weitere Eskalation. Die Taliban hätten „untereinander Differenzen, die Bevölkerung hungert und natürlich steigt da auch der Frust“, sagt sie. Sie hält es für plausibel, dass Anschläge durch den IS und auch durch die NRF weiter zunehmen – und „dass es dann zu einem Bürgerkrieg kommt“.