Wie die Wahlkommission in der Nacht auf Mittwoch in Tunis mitteilte, wurde das Referendum mit einer überwältigenden Mehrheit angenommen. Konkret entfielen 94,6 Prozent der abgegebenen Stimmen auf Ja. Die Beteiligung an der Volksabstimmung am Montag erreichte jedoch nur 28 Prozent. Die neue Verfassung tritt bei einfacher Mehrheit für den Entwurf in Kraft – unabhängig von der Wahlbeteiligung.
Unterdessen strömten Hunderte von Saied-Anhängern in der Hauptstadt Tunis auf die zentrale Habib-Bourguiba-Allee, um zu feiern. „Die Souveränität ist für das Volk“, skandierten sie und wiesen Bedenken über eine Rückkehr zur Autokratie zurück. „Wir haben vor nichts Angst. Nur die Korrupten und die Beamten, die den Staat geplündert haben, haben Angst“, hieß es etwa.
Tunesien befürwortet neue Verfassung
Bei niedriger Wahlbeteiligung hat die tunesische Bevölkerung am Montag einer neuen Verfassung zugestimmt. Die Wahlkommission gab die vorläufige Wahlbeteiligung mit 27,5 Prozent an. Laut einer Nachwahlbefragung befürworteten 92,3 Prozent der abgegebenen Stimmen das Referendum. Mit ihm sollen die Befugnisse des Präsidenten auf Wunsch von Amtsinhaber Kais Saied ausgeweitet werden.
Ein anderer Wähler sagte der Deutschen Presse-Agentur (dpa), die neue Verfassung sei der einzige Weg, um die Krise im Land zu beenden. Der Staat steckt in einer Wirtschaftskrise und wurde schwer von der CoV-Pandemie und dem Rückgang an Touristen getroffen. In der Bevölkerung herrscht zudem Unzufriedenheit, weil die Schere zwischen Arm und Reich auseinanderklafft. Saied selbst sprach Dienstagfrüh vor Anhängern von einer „neuen Phase“, in die Tunesien nun eintrete.
Neue Verfassung stärkt Macht des Präsidenten
Saied rief die Bürger im Vorfeld zur Teilnahme an dem Referendum auf. Sie sollten so eine „neue Republik“ schaffen, die „auf echter Freiheit, Gerechtigkeit und nationaler Würde“ gründe. „Es gibt wichtige Reformen, die eingeleitet werden müssen“, sagte Saied in der Nacht auf Dienstag, wie die staatliche Nachrichtenagentur TAP meldete. Er wolle „alle Forderungen des tunesischen Volks“ umsetzen. Seit seinem Putsch im Jahr 2019 erklärte der gelernte Jurist, das politische System in eine „Demokratie von unten“ ohne Parteien umgestalten zu wollen.
Mit einer Verfassungsänderung würde jedoch vor allem der Präsident selbst deutlich mehr Macht bekommen. Der Entwurf sieht unter anderem vor, dass er die Regierung sowie Richter ernennen und entlassen kann. Er könnte im Parlament Gesetzestexte einbringen, die Vorrang vor anderen Entwürfen hätten. Die Stellung des Parlaments würde deutlich geschwächt, eine Absetzung des Präsidenten ist in der neuen Verfassung nicht vorgesehen.

Der Präsident genießt zudem laut Artikel 109 während seiner Amtszeit Immunität und kann nach Anhörung des Ministerpräsidenten und des Parlaments „außergewöhnliche Maßnahmen“ treffen, wenn „eine unmittelbare Gefahr für die Republik, die Sicherheit des Landes und seine Unabhängigkeit besteht“ (Artikel 96). Laut Artikel 5 ist Tunesien Teil einer islamischen Nation – und es sei allein Rolle des Staates, die „Ziele des reinen Islam zum Schutz des Lebens, der Ehre, des Geldes, der Religion und der Freiheit“ zu verwirklichen, weshalb eine Rückkehr der Scharia als Gesetzesgrundlage befürchtet wird.
Rückkehr zu Diktatur befürchtet
Bisher setzte Saied seine Entscheidungen per Dekret durch, nachdem er unter Berufung auf Notstandsgesetze die Regierung und das Parlament entlassen hatte. Das Verfassungsreferendum wurde auch als Abstimmung über Saieds bisherige Führung angesehen – die geringe Beteiligung könnte daher Saieds Kritikern Aufwind geben und dessen Legitimität schwächen. Auf Maßnahmen gegen Arbeitslosigkeit und Armut geht die neue Verfassung zudem kaum ein.

Sowohl die islamistische Ennahda-Partei wie auch die säkulare Partei PDL unter Vorsitz von Abir Moussi nannten das Referendum einen „illegalen Prozess“ ohne Absprache. Am Wochenende versammelten sich Hunderte Menschen im Zentrum von Tunis, um gegen die neue Verfassung zu demonstrieren. Sie befürchten, dass sie die Basis für eine erneute Diktatur in dem nordafrikanischen Land sein wird. Der Jurist Sadok Belaid, den Präsident Saied mit der Erarbeitung der Verfassung betraut hatte, distanzierte sich von der Endfassung und erklärte, sie könne „den Weg zu einem diktatorischen Regime frei machen“.
Tunesien war nach den arabischen Aufständen ab 2010 das einzige Land, das als Demokratie aus dem „arabischen Frühling“ hervorgegangen ist. Die Wut der Bevölkerung wegen rasch wechselnder Regierungen, Armut, Inflation und den Folgen der CoV-Pandemie spielten Saied jedoch in die Hände. Vor allem am Land hat der konservative Politiker die breite Unterstützung von Tunesierinnen und Tunesiern, die sich von der Demokratie im Stich gelassen fühlen und das politische System als korrupt empfinden.