Der Tenor der Debatte: Schormanns einvernehmlicher Rücktritt kam zu spät. Die öffentliche Diskussion und die trotzige Haltung der documenta-Führung haben die neben der Biennale von Venedig wichtigste Kunstausstellung der Welt nachhaltig beschädigt. Inzwischen wird von Kritikern und Kritikerinnen sogar eine Unterbrechung der Ausgabe gefordert. Zu lange wurde der Eindruck vermittelt, man gehe nach dem Motto vor: Gut, reden wir über Antisemitismus, aber dann müssen wir auch über Zensur in der Kunst sprechen. Antisemitismus zu verhindern hat aber nichts mit Zensur zu tun. Themenverfehlung.
Und auch, dass Künstlerinnen und Künstler in Ländern des Südens eben nicht in europäische Diskurse eingebunden sind, ist keine Entschuldigung. Antisemitismus bleibt Antisemitismus. Die Leidtragenden sind jene vielen Kunstkollektive, die sich jahrelang auf ihre Präsenz bei der documenta vorbereitet haben, angereist sind, aufwändige Projekte vorbereitet haben und nun 100 Tage in Kassel sitzen, wo ausschließlich über antisemitische Ausritte diskutiert wird, für die die meisten von ihnen nichts können.
„Invasoren fressen wir auf“
Eine von ihnen ist Chang En-Man. Als sie noch ein Kind im Volksschulalter war, trennten sich ihre Eltern. Sie zog mit ihrem Vater in die taiwanesische Hauptstadt Taipeh, die Mutter ging zurück zum Bergvolk der Paiwan, von dem sie abstammt. Erst im Erwachsenenalter, als akademisch ausgebildete Künstlerin, reiste Chang zu ihrer Mutter und begann sich mehr und mehr mit der Kultur der Paiwan zu beschäftigen und dadurch mit dem Unterschied zwischen traditionellem und modernem Leben, mit Themen der Urbanisierung und des Kolonialismus.
In Kassel präsentiert sie ein komplexes Projekt, das all diese Themen zusammenbringt. Im Zentrum steht das Hirsegericht Cinavu, um das sich viele Paiwan-Mythen ranken (einen spannenden Mythos erzählt sie im Video). Eine Zutat von Cinavu sind afrikanische Schnecken, die von den japanischen Besatzern (1895 bis 1945) zur Ernährung der Bevölkerung auf der Insel ausgesetzt worden waren und heute eine allgegenwärtige, invasive Spezies sind. Chang im Interview: „Und wie gehen wir mit Invasoren um? Wir fressen sie auf.“
Die Künstlerin Chang En-Mang stammt vom taiwanesischen Bergvolk der Paiwan ab. Sie erzählt vom Mythos, wie die Hirse auf die Insel kam.
Ausgestellt ist in Kassel ein Floß auf der Fulda mit Scheiben, die an Maulbeerblätter erinnern. Maulbeerblätter braucht man, um die Schnecken für Cinavu zuzubereiten. Das Floß soll das Publikum der documenta auf eine Fantasiereise zu den Paiwan mitnehmen. Vor dem Floß befindet sich an Land ein „Warteraum“ mit Informationen und Grafiken über Schnecken und Hirse. Und auf die ganze Stadt verteilt finden sich QR-Codes in Form von Schnecken, die auf weitere Mythen und Informationen verweisen.
Skateboarden als Universalsprache
Das Ehepaar Jiradej und Pornpilai Meemalai kommt aus Thailand, wo die zwei in einer abgeschiedenen Gegend das Kunstkollektiv Baan Noorg gegründet haben. Baan Noorg heißt so etwas wie Provinzler oder Landeier, und die beiden machen künstlerische Projekte, die der Bevölkerung, die buchstäblich an den Rändern der Gesellschaft lebt, helfen sollen, ganz besonders jungen Menschen. In ihrem dreiteiligen Projekt geht es in einem Video und auf mit Mythen illustrierten, traditionellen Fächern um Milchwirtschaft – sie vernetzen von Kassel aus auch deutsche Milchbetriebe mit solchen aus Thailand.
Der dritte Teil ist eine Halfpipe, die gemeinsam mit der Kasseler Skateboard-Community gebaut wurde (zu sehen im Video). Die lokalen Skaterinnen und Skater schenken nach Ende der documenta Jugendlichen aus Thailand ihre Boards. Denn, so erklären die Meemalais im Interview: Wer mit einem Skateboard verreist, hat überall sofort eine Community, an die er oder sie anknüpfen kann. Insofern sind die Boards Tickets – nicht nur um wegzukommen, sondern auch um woanders wirklich anzukommen.
Die Künstlergruppe Baan Noorg verbindet durch das Skaten Kassel mit der thailändischen Provinz; ein Skatepark für Kassel, Boards für thailändische Kinder.
In der Fukushima-Sauna
Die Mitglieder des Kollektivs Cinema Caravan wiederum kommen vom japanischen Surferstrand Zushi Beach, wo sie jedes Jahr ein Filmfestival veranstalten, das mit dem Sundance-Festival in Sachen Fantasie mithalten kann (in Sachen Größe und Bedeutung nicht so ganz). Gemeinsam mit dem Künstler Takashi Kuribayashi haben sie ein kreatives Partydorf aus Holz und Fliegengitterstoffen aufgebaut, mit DJ-Zelt, Bar und Kräutersauna, alles wird spätabends von Visuals erleuchtet.
Cinema Caravan veranstalten ein Filmfestival an einem japanischen Surferstrand. Zur documenta nehmen sie statt Kunst – oder als Kunst – ihre Form des Partymachens mit.
Die Kräutersauna ist dem Unfallreaktor von Fukushima nachgebildet. Nur, erklärt Takashi im Video, dass man hier gesund werden kann. Für ihn ist die improvisierte Strandparty ein Symbol für Zusammenhalt und Gemeinsamkeit – Werte, die seiner Meinung nach gerade im globalen Westen viel größer geschrieben werden müssten. Die Party kommt jedenfalls gut an; in der Kräutersauna drängeln sich des Nachts Gäste, allerdings mit Bier in der Hand, damit es nicht allzu gesund wird.
Ungarns alternative Kunstszene
Ebenfalls leicht und spielerisch legen Borbala Szalai und Eszter Lazar ihr Projekt bei der documenta an. Die beiden repräsentieren die Off Biennale Budapest, bei der alle zwei Jahre Werke von jenen Künstlerinnen und Künstlern gezeigt werden, die keine öffentlichen Gelder erhalten und auch sonst nicht vom Staat unterstützt werden. Die Biennale hat sich als wichtiges Forum zum Austausch und für die internationale Sichtbarkeit der alternativen Kunstszene Ungarns entwickelt.
Bei der Budapest Biennale werden alle zwei Jahre Künstlerinnen und Künstler ausgestellt, die keine Regierungsgelder annehmen. Nun hat eine Delegation ein gut gelauntes Projekt in Kassel umgesetzt.
Bei der documenta haben die beiden gemeinsam mit dem spanischen Designkollektiv Recetas Urbanas eine Brücke über ein Bootshaus am Ufer der Fulda entworfen – und einen kleinen Spielplatz. Kräftig mitgeholfen beim Aufbau und mitgestaltet haben zwei Schulklassen. Die Brücke führt zu Spiel und Spaß, erklären Szalai und Lazar im Video, über sie zu gehen ist wie ein Kaleidoskop zu drehen: Plötzlich sieht man die Welt mit ganz anderen Augen.
Gemeinsamkeit? Da war doch was
Das wäre eigentlich auch der Sinn dieser documenta gewesen. Das indonesische Kunstkollektiv Ruangrupa lud Gruppen ein von Künstlerinnen und Künstlern, Aktivistinnen und Aktivisten aus aller Welt, vor allem aus Ländern des globalen Südens, damit der Blick auf das Gemeinsame gerichtet wird. Darauf, wie ein Netzwerk aus lokalen, aber international vernetzten Initiativen der Welt der Großkonzerne etwas entgegenhalten kann. Die berechtigte Antisemitismusdebatte hat sich langsam etwas beruhigt. Aber ob von der gemeinschaftlichen Message noch irgendetwas durchdringt, ist fraglich.