Jugendliche vor einem Zug
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50 Jahre Interrail

Freiheit in vollen Zügen

Nächte in Zügen und auf Bahnhöfen, mit dem Tramperrucksack durch fremde Städte streunen, Zufallsbekanntschaften aus allen möglichen Ländern: Solche Erinnerungen verbinden seit 50 Jahren Generationen von Menschen, die in ihrer Jugend mit dem Interrail-Pass Europa erkunden konnten. Das Programm, das ursprünglich eine einmalige Aktion sein hätte sollen, wurde zur Erfolgsgeschichte – und zum frühen Symbol für ein Europa ohne Grenzen.

Als die ersten Interrail-Tickets 1972 verkauften wurden, beteiligten sich 20 Länder. Mit dem Ticket konnte man von Griechenland bis Norwegen, von Polen über die DDR nach England reisen. Die Altersgruppe, die damals angesprochen werden sollte, war recht eng gefasst – das Programm richtete sich nur an junge Menschen bis 21 Jahre.

Angesprochen werden sollten jene, die dem gemeinsamen Pauschalurlaub mit den Eltern entwachsen waren, sich sonst aber keine Reisen hätten leisten können – vor allem nicht ins Ausland. Statt Ferien mit Mama, Papa und der kleinen Schwester in der Pension am See oder an der oberen Adria war es plötzlich möglich, Auslandserfahrungen auf eigene Faust zu machen und Länder zu bereisen, die vielleicht nicht auf der Destinationsliste der Familie standen.

Jugendliche im Zug
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Interrail-Reisen mit Freunden und Fremden – für viele junge Menschen die erste Auslandserfahrung ohne Eltern

Skalierbares Abenteuer

Ganz billig war das gefühlt grenzenlose Zugfahren auch damals nicht, im Vergleich zu Flugpreisen aber erschwinglich. Die 1.300 Schilling, die man für die ersten Interrail-Tickets zahlen musste (inflationsbereinigt entspräche das aktuell ca. 500 Euro), konnte man sich mit einem Ferienjob durchaus verdienen.

Das Geheimnis des Interrail-Tickets liegt möglicherweise auch darin, dass es bis heute Abenteuer verspricht, bei selbst gewähltem Grad an Komfort – mit Aufpreisen sind erste Klasse, Schnellzüge und Schlafwagenplätze zubuchbar, und auch Interrail-Reisende können in schicken Hotels absteigen.

Nicht erreichbar, Informationen per Postkarte

Nostalgische Erzählungen ehemaliger Rucksackreisender handeln trotzdem fast immer von extremer Sparsamkeit aus Geldmangel. Dem Mythos nach gehört es zum „richtigen“ Interrail-Erlebnis, dass man, um Geld zu sparen, Nächte in Zügen oder Bahnhofshallen verbrachte, am Zielort in Jugendherbergen, in Parks oder am Strand nächtigte. Dass Eltern damit immer einverstanden gewesen wären, ist nicht anzunehmen, war aber egal. Bis vor 20 Jahren waren sie, mangels Internet und Handys, ohnehin auf gnädige Lebenszeichen per Münztelefon oder Postkarte angewiesen.

Trocken wiedergegeben klingen Interrail-Erzählungen dadurch oft nach ziemlichem Alptraumurlaub. Eine Nacht im vollen Rauchergroßraumwagen von Paris nach Südfrankreich (TGV-Aufschlag zu teuer, Liegewagen ausgebucht)? Bahnhofswärter, die schlafende Backpacker mitten in der Nacht von den Holzbänken vertreiben? Stundenlange Zugsfahrten ohne Sitzplatz bei 30 Grad und ohne Klimaanlage? Wer nicht dabei war, kennt nicht die Details – nicht die Gesichter der neuen Freundinnen und Freunde, nicht die Geschichten, die sie erzählt haben.

Erst Privileg der Jugend, seit 1988 ohne Alterslimit

Nachdem im ersten Jahr bereits 88.000 Pässe verkauft wurden, wurde das eigentlich für neun Monate befristete Angebot verlängert. Das Alterslimit wurde sukzessive erhöht – 1973 auf 23 Jahre, 1979 auf 26 Jahre und 1988 mit dem „26+“-Tarif schließlich gänzlich abgeschafft.

Im Laufe der Geschichte änderten sich die Modalitäten und teilnehmenden Länder – 1973 stiegen die DDR und Polen aus, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs kamen große Teile Osteuropas dazu. 1990 wurde der historische Wert von 399.000 Interrail-Tickets verkauft.

Für jene, die nicht ewig Zeit und noch weniger Geld hatten, wurden die fast 30 Länder 1994 in Zonen geteilt, die man einzeln oder in Paketen buchen konnte. Unverändert blieb, dass man das Ticket im Heimatland buchen, dort aber bis zur Grenze zusätzlich ein (ermäßigtes) Ticket erwerben musste – die Devise war schließlich: weg von zu Hause, hinaus in die Welt.

Zwei junge Frauen im Zug
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Musste man sich früher mit Reiseführern und analogen Zugsplänen organisieren, ist in Internetzeiten die Reiseplanung deutlich einfacher geworden

Veränderte Modalitäten, selbe Ziele

2007 wurde das Zonensystem über Bord geworfen und durch Länderpässe für mittlerweile 33 Staaten ersetzt. Mit unterschiedlicher Anzahl freier Fahrten innerhalb unterschiedlicher Gültigkeitsdauern kann man sich bis heute die Reise im Modulsystem planen. Damit ist Interrail nicht mehr nur ein Angebot für Menschen, die Freiheit und Spontaneität suchen, sondern auch für Reisende attraktiv, die einfach nur ihre Urlaubsdestination per Zug erreichen wollen.

In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist das finanzielle Argument für das Interrail-Ticket deutlich in den Hintergrund geraten, angesichts der großen Konkurrenz von Billigfliegern zu unzähligen Destinationen. Mit zunehmendem Bewusstsein für die Klimakrise, steigenden Flugpreisen und der aktuell chaotischen Situation in der Flugbranche trifft das Interrail-Ticket womöglich erneut einen Nerv – und schafft vielleicht gerade deswegen auch für heranwachsende Generationen noch Erinnerungen in vollen Zügen.