Das Hauptquartier des russichen Yandex-Konzerns in Moskau
APA/AFP/Alexander Nemenov
„Putins Google“ Yandex

Vom hippen Start-up zur Propagandamaschine

Das russische Pendant zu Google, die Plattform Yandex, hat sich in rund zwanzig Jahren vom Start-up zum Platzhirschen auf dem russischen Markt entwickelt. Durch die Invasion in der Ukraine hat sich für das früher stark westlich geprägte Unternehmen alles verändert. Der Kreml brachte es strikt auf Linie. Und auch wirtschaftlich zwang der Krieg Yandex in die Knie.

„What a difference a war makes“ – was für einen Unterschied ein Krieg ausmacht, schrieb die „New York Times“ kürzlich in ihrer Geschichte über die Plattform, für die die Welt seit 24. Februar eine andere ist. Noch vor wenigen Monaten sei Yandex hervorgestochen als eine der wenigen großen Erfolgsgeschichten im russischen Tech-Business. Noch vor wenigen Monaten habe es den Ruf als „coolstes Unternehmen Russlands“ gehabt, mit mehr als 18.000 Beschäftigten, einem Wert von 31 Mrd. US-Dollar und einer wachsenden Userzahl auch im Rest der Welt. „Dann hat Präsident Wladimir W. Putin die Ukraine überfallen.“

Yandex wird gerne als russisches Gegenstück zu Google beschrieben, auch weil die beiden Firmen fast gleich alt und auch ähnlich entstanden sind. Im Jahr 2000 hoben Arkadi Wolosch, Jelena Kolmanowskaja und Ilja Segalowitsch Yandex aus der Taufe, etwa zu dem Zeitpunkt, als Sergej Brin und Larry Page Google erfanden. Die Amerikaner wollten den russischen Konkurrenten auch bald schlucken, Yandex lehnte allerdings eine Übernahme ab – man wollte unabhängig bleiben. Die Nullerjahre waren die Zeit ungebremsten Wachstums für Yandex.

In bunten Büros mit flachen Hierarchien entwickelte sich das Unternehmen zum Zampano des russischen Marktes. Anders als Google verließ Yandex bald den Pfad, eine reine Suchmaschine zu sein. Die Seite entwickelte sich zum Eintrittstor ins Internet für die Russinnen und Russen. Mit der App kann man ein Taxi bestellen und auch Essen, die Plattform bietet Nachrichten und Kultur, Videos, Musik, Cloud-Dienste und Streaming. Alles, was Google, Uber, Amazon, Spotify und noch manche mehr anbieten, vereint Yandex auf einer Plattform – damit häufte sich nicht nur ein enormer Datenschatz an, sondern auch 60 Prozent Marktanteil.

Arbeiter in dem Logistikcenter von Yandex in Moskau
Reuters/Evgenia Novozhenina
Logistikzentrum für yandex.market: Das Unternehmen deckt alle möglichen Angebotsarten ab

„Gefährliche Liaison mit dem Kreml“

Der Kriegsbeginn war allerdings tatsächlich der Wendepunkt für die bis dahin vom Erfolg verwöhnte Firma. Nicht nur die Geschäftsführung verließ sukzessive das Boot. Yandex wurde vom Handel an der US-Börse NASDAQ ausgeschlossen, die Aktie brach um 75 Prozent ein. Die Sanktionen des Westens ließen ausländische Partner fliehen. Tatsächlich geflohen sind auch zahllose Beschäftigte: Etwa ein Viertel der gesamten Belegschaft verließ Russland seit dem Februar.

„Heute steckt das Unternehmen in einer tiefen Krise, in die es sich selbst manövriert hat“, so das schweizerische Onlinemagazin Republik.ch. Yandex sei „eine gefährliche Liaison mit dem Kreml“ eingegangen. Man habe sich Protektion gegen die westliche Konkurrenz erhofft, zudem habe es den politischen Opportunismus gegeben, „um in Ruhe gelassen zu werden. Die Rechnung ist nicht aufgegangen“, so Republik.ch.

Besuch von Zensoren

Erste Repressionen des Kreml hätten sich schon in den späten Nullerjahren eingeschlichen, berichtete ein ehemaliger Leiter der Nachrichtensparte Yandex News. Er habe kurz vor dem Georgien-Krieg 2008 erstmals Besuch von Beamten des Kreml bekommen. Sie hätten verlangt, dass die Nachrichten auf der Plattform vor Veröffentlichung abgesegnet werden, außerdem hätten sie Zugang zur Bedienungsoberfläche von Yandex News verlangt.

In den folgenden Jahren versuchte der Kreml immer wieder, Yandex an die Kandare zu nehmen. Manchmal widerstand der Tech-Riese, manchmal knickte er ein. Der unausgesprochene Deal mit dem Kreml, der Yandex von Kritikern vorgeworfen wird, lautete: Der Staat schafft dem Unternehmen günstige Rahmenbedingungen ohne Sorge vor Wettbewerbshütern, die – anders als etwa in der EU – kein Auge auf das De-facto-Monopol werfen. Dafür bringt die Plattform nur jene Nachrichten, die Putin in die Hände spielen.

Strenge Internetgesetze

2016 verabschiedete die Duma zudem noch strenge Internetgesetze, die die Kontrolle durch Kreml-Beamte vorschreiben. So dürfen Nachrichtenangebote, die mehr als eine Million Leser pro Tag haben, nur noch „lizenzierte“ Medien anzeigen. Internetfirmen wurden verpflichtet, über einen Zeitraum von sechs Monaten die Daten und Botschaften ihrer Nutzer zu speichern und gegebenenfalls den „entsprechenden Regierungsbehörden“ auszuhändigen. Die Gesetze sind derart strikt, dass damals sogar die Kommunistische Partei (KP) dagegen protestierte.

Nach der Invasion in die Ukraine verschärfte Putin einmal mehr die Gangart gegen die Meinungsfreiheit und unterschrieb weitere Gesetze gegen angebliche „Fake News“ über die russischen Streitkräfte und Staatsorgane im Ausland. Die Strafen reichen bis zur Haft.

Nachrichten werden täglich ausgesucht

Heute „kuratiert“ Sergei Kirijenko, der stellvertretende Stabschef der russischen Regierung, die auf Yandex veröffentlichten Nachrichten. Putin selbst lässt sich täglich die fünf wichtigsten Yandex-News auf den Tisch legen, so die Recherche von Republik.ch. Die Kontrolle der Nachrichten ist kaum zu umgehen, wie die Tech-Unternehmerin Tonia Samsonowa gegenüber dem russischen Exilmedium Meduza erklärte: Samsonowa hatte ihr eigenes Start-up vor Jahren an Yandex verkauft und auch weiterhin geleitet.

Als Putin wenige Tage nach dem Einmarsch in die Ukraine die Atomstreitkräfte des Landes in höchste Alarmbereitschaft versetzt hatte, fand sich auf Yandex News dazu nichts, außer einer Meldung der staatlichen Nachrichtenagentur TASS, dass die „Abschreckungskräfte“ der Armee in höchste Alarmbereitschaft versetzt worden seien. Von Atomwaffen keine Rede. Per SMS forderte sie die Verantwortlichen bei Yandex auf, die Menschen darüber zu informieren, und erhielt prompt eine Abfuhr. Samsonowa verfasste daraufhin ein Kündigungsschreiben und veröffentlichte es auf Instagram.

Auf WhatsApp schrieb sie ihrem Vater in Moskau, wie sie Meduza erzählte. „Mein Vater schien gar nicht so besorgt zu sein wie ich. Er wusste ja nicht, dass russische Truppen die Ukraine bombardierten; er glaubte nicht, dass überhaupt etwas passierte“, so Samsonova. „Die TASS-Schlagzeile, die zu den fünf wichtigsten Nachrichten auf der Yandex-Website gehörte, gab keinen Hinweis darauf, dass die Gefahr eines Atomkriegs bestand. Mir wurde klar, dass ich nichts tun konnte, um meinen Vater zu überzeugen, wenn das eben seine Nachrichtenquelle ist.“

Es gibt keinen „Krieg“

Das Wort „Krieg“ existiert nicht in der Yandex-Blase, genauso wie auch in der Kreml-Diktion. Von mutmaßlichen russischen Kriegsverbrechen wird nicht berichtet, vom Beschuss auf Kindergärten und Krankenhäuser in der Ukraine kein Wort. Einige jener ehemaliger Chefs und Chefinnen, die ins Ausland gingen und Yandex verließen, versuchten wiederholt, ihre ehemalige Belegschaft wachzurütteln. So postet der frühere Manager Lew Gerschenson regelmäßig kritische Beiträge und adressiert dabei Yandex direkt.

Am 1. März schrieb Gerschenson auf Facebook: „Heute ist der sechste Tag des Krieges zwischen Russland und der Ukraine, an dem Wohngebiete von Charkiw, Herbergen und Entbindungskliniken mit Raketen und Salvenfeuersystemen beschossen werden. Elf Tote, Dutzende Verletzte. Heute ist der sechste Tag, an dem mindestens 30 Millionen russische Benutzer auf der Hauptseite von Yandex sehen, dass es keinen Krieg gibt, dass es keine Tausende toter russischer Soldaten gibt, dass es keine Dutzende von Zivilisten gibt, die durch russische Bombenangriffe getötet wurden, es gibt keine Dutzende Gefangene, es gibt keine große Zerstörung in verschiedenen ukrainischen Städten.“ Die Tatsache, dass „ein erheblicher Teil der Bevölkerung Russlands glauben mag, dass es keinen Krieg gibt, ist die Grundlage und die treibende Kraft dieses Krieges. Yandex ist heute ein Schlüsselelement, um Informationen über den Krieg zu verbergen.“

Jeder Tag mit solchen „Nachrichten“ koste Menschenleben, so Gerschenson. Laut Meduza wurde in den Büros von Yandex über Gerschensons Intervention heiß diskutiert. Geschäftsführerin Elena Bunina habe jedoch ihren Beschäftigten erklärt, dass ein Widerstand gegen den Kreml aussichtslos sei: „Wenn wir die Nachrichten entfernen, werden wir zehn Minuten Ruhm ernten. Auf globaler Ebene wird sich nichts ändern, und wenn die zehn Minuten um sind, wird alles wieder so sein wie vorher, nur Yandex wird weg sein“, zitierte sie Meduza.

Doch im April trat selbst Bunina von ihrer Funktion zurück und zog nach Israel. „Yandex war einmal wie eine Insel der Freiheit in Russland, und ich weiß nicht, wie das weitergehen soll“, so Bunina laut „New York Times“.

Yandex News wird verkauft

Nachdem Russland die westliche Nachrichtenkonkurrenz verbannt hat, stiegen die Userzahlen von Yandex noch weiter in lichte Höhen. Nach dem Abschied von Apple, Microsoft und anderen aus Russland beherrscht Yandex den Markt. Trotzdem geht es dem Unternehmen miserabel: Die westlichen Sanktionen trafen nicht nur direkt einige Verantwortliche im Unternehmen, sie schmälerten auch den Yandex-Wert über Nacht um Milliarden. Dependancen und Geschäftspartner im Ausland schlossen ihre Pforten, die Zukunftsaussichten sind verschwommen. Ende Juni waren laut Republik.ch fast 2.800 offene Yandex-Stellen ausgeschrieben.

Kürzlich entschloss sich Yandex dazu, seine Nachrichtensparte und die Bloggerplattform Yandex Zen zu verkaufen. Käufer ist VK, das russische Pendant zu Facebook, geführt von Wladimir Kirijenko, dem Sohn des stellvertretenden Stabschefs der Regierung. Man wolle sich künftig auf technologische Produkte konzentrieren, hieß es. Im Unternehmen soll die Nachricht vom Verkauf zu einem kollektiven Aufatmen geführt haben.

Unüberwindbarer Spalt

Den Kreml dürfte der Verkauf auch nicht schmerzen, zumal die Kontrolle über Nachrichteninhalte auf VK nun einfacher werden dürfte. Zudem belegte der Kreml Google dieses Monat mit Wettbewerbsstrafen von insgesamt 380 Mio. Dollar. Parallel dazu bastelt Russland schon seit Jahren an einem eigenen Internet: Mit „Runet“ soll das Land quasi digital abgekapselt werden, ähnlich wie es in Nordkorea bereits mit „Kwangmyong“ der Fall ist. Wie es mit Yandex dann weitergeht, ist offen.

Ilja Krasilschtschik, der Yandex nach der Veröffentlichung von Bildern aus Butscha verließ, sagte der „New York Times“, der Spalt zwischen einer Befriedigung der Bedürfnisse des Kreml und jener der westlichen Partner sei unüberwindbar. „Sie müssen einen Weg zwischen diesen beiden finden, aber das ist unmöglich“, so Krasilschtschik. „In jeder anderen Situation wäre es ein perfektes Unternehmen wie Google oder jedes andere Tech-Unternehmen. Aber Yandex hat das Problem, ein russisches Unternehmen zu sein.“