„Entwicklungspartner“

Indiens wachsender Einfluss in Afrika

Am Montag feiert Indien 75 Jahre Unabhängigkeit. International ist das Land auf dem Vormarsch, das belegt nicht zuletzt das Engagement in Afrika, bei dem sich Indien an China orientiert: Drei Gipfeltreffen und ein rasant steigender Handel mit afrikanischen Ländern zeigen den wachsenden Einfluss. Zugute kommt Indien die geteilte koloniale Vergangenheit, sagen Expertinnen und Experten zu ORF.at.

In Indien leben heute mehr als 1,3 Milliarden Menschen – das Land im indischen Subkontinent wird China bald als bevölkerungsreichstes Land überholen, wie aus dem „World Population Prospects 2022“ der Vereinten Nationen hervorgeht. Als boomende Volkswirtschaft habe das Land einen großen Energiehunger, sagt Veronika Wittmann, Professorin für Global Studies an der Johannes Kepler Universität Linz im Gespräch mit ORF.at. Mit seinen Aktivitäten am afrikanischen Kontinent unterstreiche Indien seinen Anspruch als „Wortführer der Länder des Globalen Südens“, so die Expertin.

Seit den 1990er Jahren hat Indien seine politischen und wirtschaftlichen Aktivitäten in Afrika ausgeweitet. Drei Gipfel in den Jahren 2008, 2011 und 2015 und mehr als 35 Staatsbesuche indischer Politiker in afrikanischen Ländern zeigen – die Stärkung der Beziehungen habe unter Premierminister Modi hohe Priorität, schreibt die „Hindustan Times“.

Indien als „Entwicklungspartner“

Im Vergleich zu China, das seit Jahren die Infrastruktur in afrikanischen Staaten ausbaut und mit Investitionen den Markt enorm beeinflusst, trete Indien als „Entwicklungspartner“ auf, sagen internationale Experten und Expertinnen. Für afrikanische Staaten sei Indien als größte Demokratie der Welt attraktiv, sagt Wittmann, und für Indiens Streben nach einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat spiele das Stimmgewicht der Länder eine wichtige Rolle – auch bei einer Reform der Vereinten Nationen. „Wenn ich die afrikanischen Staaten auf meiner Seite habe, werden die Karten neu gemischt“, so die Expertin.

In den letzten Jahren hat der indisch-afrikanische Handel rasant zugenommen, wie Zahlen des „African Economic Outlook 2017“ belegen: Im Jahr 2000 betrug das Handelsvolumen 6,9 Milliarden Dollar, 2010 belief es sich auf 37,5 Milliarden und 2015 auf 51 Milliarden. Das aktuelle Handelsvolumen im Jahr 2021 umfasst mehr als 82 Milliarden Dollar – inzwischen ist Indien zum zweitwichtigsten nationalen Handelspartner Afrikas aufgestiegen.

Energie und medizinisches Know-how

Der Politikwissenschaftler Belachew Gebrewold erklärt im Interview mit ORF.at: „Indien sieht in Afrika einen noch nie dagewesenen Markt.“ Es geht vor allem um Energieressourcen, Öl und Kohle. Intensiv sind die Handelsbeziehungen vor allem zu Nigeria und Angola – Indien zählt zu den größten Importeuren von nigerianischem Rohöl, wie aus einem Bericht der „High Commission of India“ hervorgeht.

Auch in den Bereichen Telekommunikation, Informationstechnologie, Medizin und Pharmazeutika hat Indien seine Aktivitäten ausgeweitet. Wie die US-amerikanische Tageszeitung „Politico“ berichtete, erwägt das Serum Institute of India, einer der weltweit größten Hersteller von Impfstoffen, nach Afrika zu expandieren. Das Unternehmen spielt eine wichtige Rolle bei der Bekämpfung von Hepatitis und bei Covid-19-Impfstoffen. Medikamente und medizinisches Know-how aus Indien seien für afrikanische Staaten sehr wichtig, sagt Gebrewold, dabei gehe es auch um HIV-Medikamente.

Gandhi-Statue in Johannesburg
Reuters/Siphiwe Sibeko
Die Gandhi-Statue in Johannesburg: Gandhis Engagement in Südafrika gilt heute als umstritten

Geteiltes koloniales Erbe

Durch die gemeinsame koloniale Erfahrung hat Afrika zu Indien – im Vergleich zu China – eine tiefergehende und über Jahrzehnte andauernde Verbindung. Indien hat vor vielen afrikanischen Ländern die Unabhängigkeit erlangt und afrikanische Länder in ihrem Kampf für Unabhängigkeit unterstützt.

Durch die gemeinsame koloniale Vergangenheit fühle man sich stark verbunden, sagt Wittmann: „Das ist ein kulturelles Erbe, auf das man sich heute stark beruft und auf dem man aufbaut.“ Auch der Umstand, dass Mahatma Gandhi viele Jahre in Südafrika gelebt hat, spiele für die heutigen Beziehungen eine wichtige Rolle, fügt Gebrewold hinzu. Von 1893 bis 1914 lebte Gandhi in Südafrika und setzte sich als Anwalt für die Rechte der indischen Bevölkerung unter dem Apartheid-Regime ein.

Gandhis umstrittener Aktivismus in Südafrika

Seine Episode in Südafrika beschreibt Gandhi selbst in seiner Autobiographie als „Schlüsselerlebnis“ für seinen Kampf gegen die Unterdrückung und die Kolonialherrschaft. Gandhis Lehre beeinflusste und inspirierte Martin Luther King oder Nelson Mandela, sein Aufenthalt in Südafrika wird heute jedoch auch kritisch betrachtet.

Der südafrikanische Soziologe Ashwin Desai und der Historiker Goolam Vahed schreiben in ihrem Buch „The South African Gandhi: Stretcher-Bearer of Empire“, dass sich Gandhi während seines Aufenthalts immer wieder rassistisch gegenüber der afrikanischen Bevölkerung geäußert habe, wie die „Washington Post“ berichtete. Es gibt Quellen, die darauf hinweisen, dass Gandhi Überlegenheit von Indern gegenüber der afrikanischen Bevölkerung vertreten hätte und sein Kampf gegen die Apartheid weniger den afrikanischen als den indischen Landsleuten gegolten hätte. Gandhi werde unterschiedlich interpretiert, sagt Gebrewold und fügt hinzu: „Man muss sich genau anschauen, welche Position und Haltung Gandhis als rassistisch bewertet wird.“

Universum History: Mahatma Gandhi – Kampf ohne Gewalt

Gandhis Leben – von den Anfängen seines gesellschaftlichen Engagements als Jurist bis zu seiner prägenden Rolle im Kampf Indiens um die Unabhängigkeit – widmet sich die Dokumentation „Mahatma Gandhi – Kampf ohne Gewalt“ in „Universum History“, ORF2.

Intensive Beziehungen durch Diaspora und Bildung

Heute leben in vielen Teilen Afrikas indische Diaspora-Communitys, die für die Stärkung der indisch-afrikanischen Beziehungen von entscheidender Bedeutung sein könnten. Man könne diese Diaspora-Communitys sehr gut nutzen, etwa für „wirtschaftliche Austauschaktivitäten, als auch um stärker auf politischer und kultureller Ebene miteinander zu kooperieren“, erklärt Wittmann.

Die indische Diaspora in Südafrika umfasst etwa drei Millionen Menschen, die vor allem in Durban leben. Auf Mauritius macht die indische Diaspora fast 70 Prozent der Bevölkerung aus, indische Communitys gibt es auch in Kenia, Uganda, Nigeria, Tansania, Madagaskar und Mosambik.

Südafrikanische Frauen im traditionellem indischen Sari im September 2019 in Durban
APA/AFP/Rajesh Jantilal
Südafrikanische Frauen, gekleidet im traditionellen indischen Sari. In vielen Teilen Afrikas leben indische Diasporacommunitys.

Auch der Faktor Bildung sorgt für intensive Beziehungen. Seit Jahren lockt die indische Regierung afrikanische Studierende an indische Universitäten und Hochschulen – mit Stipendien, erschwinglichen Studiengebühren und dem Versprechen qualitativer Bildung. Im Jahr 2016 gab es 42.420 ausländische Studierende in Indien, die Länder Sudan und Nigeria waren beide unter den Top-Fünf-Herkunftsländern, wie das US-amerikanische National Public Radio (NPR) berichtete. „Diese Soft Power als Teil der indischen Außenpolitik ist nicht zu unterschätzen“, sagt Wittmann.

Konflikt und Kooperation

Das Dreiecksverhältnis Afrika, China und Indien ist sowohl von Kooperation als auch Konflikt geprägt. Kooperation gebe es etwa auf der Ebene des BRICS-Formats – sowohl Indien als auch China und Südafrika zählen zu den Mitgliedern. Gemeinsame Interessen und Kooperationen gibt es auch in den Maßnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus und Piraterie vor dem Horn von Afrika. Konfliktpotenzial bieten hingegen sicherheitspolitische Fragen, wie etwa Chinas wachsende Präsenz im Indischen Ozean. 2017 haben Indien, Japan und mehrere afrikanische Länder den Asia-Africa Growth Corridor (AAGC) verabschiedet – ein Abkommen mit dem Ziel, Infrastrukturprojekte in Afrika voranzutreiben. Internationale Experten und Expertinnen interpretieren die Initiative als Antwort auf die chinesische Belt and Road Initiative (BRI).

Problematisch sieht der Politikwissenschaftler Gebrewold auch den politischen Diskurs Indiens, der unter Premierminister Narendra Modi und seiner hindu-nationalistischen Regierungspartei BJP zunehmend polarisiert. „Viele afrikanische Staaten sehen, dass jenes Land, das bisher als Vorzeigedemokratie gegolten hat, diesen Status verlieren könnte.“ Afrika hätte mehr „Wahlmöglichkeiten“, das Dreiecksverhältnis stelle afrikanische Länder gewissermaßen aber auch vor ein Dilemma, sagt der Politikwissenschaftler: „Es geht nicht darum, entweder auf der Seite von Indien oder China zu sein, sondern möglichst diplomatisch auf beiden Seiten.“