Die Ukraine war bis Kriegsbeginn Ende Februar einer der weltweit wichtigsten Weizenproduzenten. Viele Länder, etwa in Nordafrika, sind von der Ernte im Osten des Landes abhängig. Wegen des russischen Angriffskriegs waren die Agrarexporte über die Schwarzmeer-Häfen monatelange blockiert. Erst Anfang August konnte das erste mit Getreide beladene Schiff den Hafen von Odessa verlassen. Es wurde durch die Minen, die den Hafen schützen, und vorbei an russischen Kriegsschiffen eskortiert. Am Freitag folgten die nächsten drei Schiffe.
Mit den Lieferungen sollen zig Millionen Tonnen Getreide für den Weltmarkt wieder verfügbar werden. Deshalb wurde die Öffnung der Schiffswege als Hoffnungsschimmer bezeichnet. Einerseits soll die drohende Hungerkrise verhindert werden, andererseits helfen die Exporte auch der Ukraine. Denn die Agrarindustrie ist ein wichtiger Eckpfeiler der dortigen Wirtschaft.

Mit einer raschen Ernte versuchen Landwirte nun so viel zu verdienen, damit auch die nächste Aussaat sichergestellt werden kann. Alles, was wegen des Krieges in den vergangenen Monaten verpasst wurde, muss aufgeholt werden. Doch das gestaltet sich alles andere als einfach. Denn das wichtige Exportabkommen hat zwar das Problem der Lieferung über den Seeweg gelöst. Allerdings steht die Arbeit am Feld wegen der Kriegshandlungen vor vielen Risiken und Gefahren.
Landwirte ernten ums Überleben
So liegen heute viele Felder in von russischen Truppen eroberten Gebieten. Andere Äcker sind in den letzten Monaten von nicht explodierter Kriegsmunition übersät worden. Auf Bildern und Videos, die auch in sozialen Netzwerken kursieren, ist zu sehen, wie Raketenteile aus dem Feld gehoben werden und wie Feuer das Getreide zerstört. Zudem sind viele Arbeitsmaschinen unbenutzbar. Die Schäden im Agrarsektor gehen in die Milliardenhöhe, rechnen mehrere Institute vor.
Getreideernte in Kriegszeiten
Die Ukraine war bis Kriegsbeginn Ende Februar einer der weltweit wichtigsten Weizenproduzenten. Viele Länder, etwa in Nordafrika, sind von der Ernte im Osten des Landes abhängig. Nach der Wiederaufnahme des Getreideexports über das Schwarze Meer hat die ukrainische Regierung ihre Ernteprognose um rund zehn Prozent angehoben. Trotz des laufenden Krieges werden 65 bis 67 Millionen Tonnen Getreide und Ölsaaten erwartet. Zwölf Millionen seien bereits eingefahren – unter äußerst gefährlichen Bedingungen.
Hinzukommt die Teuerung, die auch die ukrainischen Landwirte trifft. Nach Angaben der „Financial Times“ haben die wiederholten Angriffe Russlands auf die wichtigste ukrainische Ölraffinerie in Krementschuk den Dieselpreis verdoppeln lassen. Diesel gilt als wichtiger Treibstoff für die Landwirte und Landwirtinnen. Auch die Kosten für Düngemittel sind um 40 Prozent gestiegen. Russland ist einer der wichtigsten Exporteure von Kalium- und Phosphordünger – was natürlich auch die Ukraine betrifft. Diese Kosten belasten die Landwirte zusätzlich.

Die Ernte an sich ist gefährlich. Viele wissen nicht, wie sie das anstellen sollen. „Ich habe 1.000 Hektar Weizen und Gerste, von denen ich nicht weiß, wie ich sie ernten soll“, sagte ein ukrainischer Landwirt im Juli gegenüber dem National Public Radio (NPR). „Wenn ich Mähdrescher und Traktoren arbeiten lasse, könnten die Fahrer in die Luft fliegen, denn es gibt noch einige Granaten in den Feldern.“
Keine andere Wahl
Viele Ukrainerinnen und Ukrainer gehen das Risiko allerdings ein, weil sie keine andere Wahl haben. Die Ernte wird im Frühherbst gesät und muss rechtzeitig im Sommer geerntet werden. Trotz Frontnähe und Beschuss sitzen Landwirte auf ihren Traktoren bzw. Mähdreschern und verfrachten das Getreide in provisorische Lagerstätten. Über die Häfen im Süden des Landes werden die Lebensmittel dann verschifft. Der Transport über den Landweg ist teurer und dauert länger. Außerdem mangelt es an der Infrastruktur und an Transportmitteln.

Schon vor der Öffnung der Schiffsrouten über das Schwarze Meer hatten Landwirte und ukrainische Soldaten von einer Form der Wirtschaftssabotage durch die russische Armee gesprochen. Landwirtschaftliche Fahrzeuge würden vermehrt ins Visier genommen, hieß es aus dem ukrainischen Militär. Nach Angaben des ukrainischen Landwirtschaftsministeriums sind Weizen, Gerste und Sonnenblumen am stärksten betroffen, da sie in der Nähe der Kampfhandlungen angebaut werden.
In der „New York Times“ zog ein Militärangehöriger einen Vergleich mit der Hungerkatastrophe Holodomor in den 1930er Jahren mit Millionen von Todesopfern. „Früher beschlagnahmten sie das Getreide, heute verbrennen sie es“, wird der Soldat zitiert. Allerdings komme es auch zu zufälligen Zerstörungen, wenn etwa russische Raketen auf militärische Ziele gerichtet sind, aber dadurch Felder in Brand geraten. Viele Landwirte hatten ihre Familien vor der Ernte bereits in Sicherheit gebracht.