Eine Frau und ein Mann bei einer Besprechung im Büro
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Pensionierungswellen

Wo der Pillenknick den Arbeitsmarkt trifft

Die Babyboomer verlassen den Arbeitsmarkt: Immer mehr Branchen melden in Österreich und in anderen Ländern, demnächst vor großen Pensionierungswellen zu stehen. Es handelt sich um die geburtenstarken Jahrgänge der 1960er Jahre, ehe zunehmender Wohlstand und der „Pillenknick“ die Geburtsraten deutlich sinken ließen. Neben Auswirkungen auf das Pensionssystem stellt sich vor allem die Frage, wie durch Pensionierungen entstehenden Lücken auf dem Arbeitsmarkt gefüllt werden können. Und: welche Branchen besonders betroffen sind.

Zuletzt meldeten ÖBB und Wiener Linien, dass sie den nächsten Jahren Hunderte Stellen nachbesetzen müssen. Bei den Lehrerinnen und Lehrern rollte die Pensionierungswelle schon länger, in einigen Fächern herrscht absolute Personalknappheit. Ebenfalls schon länger wird vor einem Ärztemangel gewarnt, zunächst im niedergelassenen Bereich, mittlerweile suchen aber auch einzelne Spitäler Nachwuchs.

Ein großer Überblick, in welchen Branchen wann Pensionsierungswellen mit entsprechenden Konsequenzen für den Arbeitsmarkt erfolgen, ist aber schwierig. Einen Hinweis liefert WIFO-Forscherin Julia Bock-Schappelwein. Sie ist Mitautorin einer Studie aus dem Vorjahr, bei der die Altersstrukturmerkmale der unselbständig Beschäftigten in Österreich und die Altersstruktur der Belegschaft sämtlicher österreichischer Unternehmen auf Grundlage von Daten des Dachverbands der Sozialversicherungsträger untersucht wurde.

ÖBB-Mitarbeiter auf einem Bahnsteig
ORF.at/Christian Öser
Auch die ÖBB brauchen in den nächsten Jahren viele neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

Wo viele Ältere beschäftigt sind

Dabei stellte sich heraus, dass in der öffentlichen Verwaltung sowie in der Energieversorgung und im Grundstücks- und Wohnungswesen der Anteil von Arbeitskräften im Alter zwischen 55 und 64 Jahren mit mehr als 20 Prozent besonders hoch ausfällt. Auch im Verkehrssektor und in der Wasser- und Abfallwirtschaft ist der Anteil der älteren Arbeitnehmerinnen und -nehmer höher als in anderen Branchen.

Auch bei einzelnen Berufsgruppen lässt sich laut Bock-Schappelwein eine alterszentrierte Struktur feststellen. Dazu würden laut den Daten der Mikrozensusarbeitskräfteerhebung von Statistik Austria unter anderen Führungskräfte, nicht akademische betriebswirtschaftliche und kaufmännische Fachkräfte und Verwaltungsfachkräfte, Betreuungsberufe, Präzisionshandwerkerinnen und -handwerker, Druckerinnen und Drucker sowie Bedienerinnen und Bediener von Anlagen und Maschinen und Montageberufe gehören.

Strukturwandel und Arbeitsbedingungen als Faktor

Größere Betriebe hätten zumeist eine ausgeglichenere Altersstruktur, heißt es in der Studie. Dennoch können diese auch mit Pensionierungswellen konfrontiert sein, etwa dann, wenn die Alterskurve in der Branche „m-förmig“ verläuft, das heißt, dass zwar auch viele Jüngere beschäftigt werden, denen aber auch eine große Zahl an Älteren gegenübersteht. Das ist bei Lehrkräften der Fall, aber auch bei Assistenzberufen im Gesundheitswesen, nicht akademischen juristischen, sozialpflegerischen, kulturellen und verwandten Fachkräften.

Die Gründe für unterschiedliche Altersverteilungen seien mannigfaltig, so Bock-Schappelwein gegenüber ORF.at. Ein Strukturwandel in der Wirtschaft kann dazu führen, dass Branchen schrumpfen oder zumindest die Beschäftigtenzahl schrumpft. Etwa in der Bekleidungsindustrie, aber auch in anderen Branchen werde auf Abgänge in der Belegschaft womöglich „nicht mit Neueinstellungen, sondern mit technologischen Veränderungen reagiert“.

Ebenso hätten spezifische Arbeitsbedingungen oder spezifische Arbeitsmarktcharakteristika einen Einfluss. Manche Branchen gelten als Einstiegsmärkte oder Übergangsmärkte für das Berufsleben, die im Laufe der Erwerbsbiografie auch wieder schnell verlassen werden.

Nicht alle Branchen beschäftigen viele Ältere

Darauf verweist auch Arbeitsmarktexpertin Silvia Hofbauer von der Arbeiterkammer Wien gegenüber ORF.at: Von der Pensionierungswelle der Babyboomerinnen und -boomer seien jene Branchen betroffen, in denen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch bis zu ihrer Pensionierung gehalten werden. Dazu zähle etwa der öffentliche Dienst – und damit auch Lehrerinnen und Lehrer. In anderen Branchen würde Ältere häufig schon früher ausscheiden, etwa im Handel und im Tourismus.

Eine Lehrerin an der Tafel
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In den Schulen rollt die Pensionierungswelle schon länger

Gefordert seien die Betriebe, so Hofbauer: Es brauche altersgerechte Arbeitsplätze. Über 55-Jährige hätten, wenn sie arbeitslos werden, trotz Arbeitskräftemangel noch immer schlechtere Einstiegschancen. Nur jede zweite Frau wechselt laut AK-Erhebung aus dem Vorjahr direkt aus der Erwerbstätigkeit in die Pension.

Es brauche in Betrieben oft ein mittelfristiges Management für Altersstruktur und Weiterbildung, so Hofbauer. Pensionierungen kämen ja nicht überraschend, daher müssten die Betriebe planen, wie sie dem Rechnung tragen – und wie sie auch über Fortbildung abgehende Fachkräfte ersetzen können.

Was Unternehmen tun können

Ähnliche Ansätze schlägt AMS-Chef Johannes Kopf gegenüber ORF.at vor: Unternehmen dürften bei der „Personalrekrutierung nicht in traditionellen Schablonen verharren“. Auch Personen, die „bisher nicht im Fokus der Rekrutierungsbemühungen standen, wie etwa Ältere, Personen, die schon länger arbeitslos sind, BerufsrückkehrerInnen, Personen mit gesundheitlichen Einschränkungen usw.“ müssten angesprochen werden.

Kopf (AMS) zu Personalmangel

Zum akuten Personalmangel in vielen Branchen erklärte AMS-Vorstand Johannes Kopf in der ZIB 2, dass etwa die Arbeitsbedingungen attraktiviert werden müssten.

Mit „Weiterbildung, lebensphasenorientierte Arbeits(zeit)gestaltung, Gesundheitsförderung, Weiterbeschäftigung z. B. in Teilzeit, auch nach Pensionierung“ können Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen auch länger im Unternehmen gehalten werden, so Kopf. Eine Verstärkung der betrieblichen Aus- und Weiterbildungsaktivitäten und Flexibilität bei der Gestaltung der Arbeitszeit und -organisation würden genauso wie eine Neubündelung von Arbeitsplatzanforderung ebenfalls helfen. Schließlich gebe es noch die Möglichkeit des Employer Branding, also dass sich Unternehmen gezielt als attraktiven Arbeitgeber positionieren, etwa Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei der Arbeitsgestaltung aktiver einbeziehen und diese eventuell auch mit Goodies belohnen.

Klein- und Mittelbetriebe gefordert – und die Politik

Aufholbedarf ortet Hofbauer vor allem bei Klein- und Mittelbetrieben und verweist dabei auf bestehende Beratungsangebote für Unternehmen. Das sieht auch Bock-Schappelwein so: Gerade Klein- bzw. Kleinstbetriebe, denen die notwendigen Ressourcen für Qualifizierung, Gesundheits- und Altersmanagement fehlen, dürften hier professionelle Unterstützung benötigen. Firmen, die etwa gemeinsam gealtert sind, hätten meist „keine oder kaum Erfahrung mit Personalumschlag (also wenige Abgänge und Neuzugänge), Erfahrungswissen weiterzugeben und Suchprozesse zeitgerecht zu starten.“

Wenige Jobsuchende für viele offene Stellen

Mehr als zwei Jahre CoV-Politik verunmöglichte vielen Menschen das Arbeiten in ihren Berufen. Derzeit finden viele Arbeitgeber gewisser Branchen keine Mitarbeiter, denn viele sind nicht mehr in ihre alten Berufe zurückgekehrt. Pflege, Gastronomie, Handel, Schulen und Flugbranche klagen über Personalmangel.

Auch von der Politik brauche es da Unterstützung, wie Arbeitsfähigkeit erhalten werden kann, etwa in Form von gesundheitsfördernden Angeboten, meint AK-Expertin Hofbauer: Die Politik könne und müsse aber auch mehr Anreize für die altersgerechte Beschäftigung von Älteren setzen – etwa in Form eines Bonus-Malus-Systems.

Die Folgen politischer Entscheidungen

Eine Sonderrolle nimmt der öffentliche Dienst ein – auch weil dort politische Entscheidungen in den vergangenen Jahrzehnten ihre Folgen zeitigen. Bock-Schappelwein verweist etwa auf den Aufnahmestopp im Bundesdienst Mitte der 90er Jahre. Auch danach bauten die Regierungen, vor allem aus Budgetgründen, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Bundesdienst deutlich ab.

2012 folgte der nächste De-facto-Aufnahmestopp, allein von 1999 bis 2020 schrumpfte der Personalstand um 30.000 Beschäftige – auch wenn 18.000 durch Ausgliederungen zustande kamen. Im Personalbericht des Bundes wird auch darauf hingewiesen, dass in den kommenden zehn Jahren eine Pensionierungswelle ansteht, was „erhöhte Anstrengungen sowie eine vorausschauende Planung erforderlich“ mache – auch weil vor allem Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit hohem Bildungsgrad, also mit Matura oder Universitätsabschluss, in den Ruhestand treten.

Doch nicht nur tatsächliche Entscheidungen der Politik sorgten dafür, dass nun Lücken drohen. Die damalige ÖVP-Unterrichtsministerin Elisabeth Gehrer (ÖVP) warnte ab den später 1990er Jahren bis 2001 in Briefen an die Maturantinnen und Maturanten, sich in Richtung Lehramt weiterzubilden. Die Jobaussichten seien äußerst schlecht, hieß es damals von der Ministerin. 2000 und 2001 riet sie auch von einem Medizinstudium ab und verwies auf die lange Studienzeit und Wartezeiten auf einen Turnusplatz.

Wertewandel bei Jüngeren

Der sich in Umfragen abzeichnende Trend eines Wertewandels – nicht zuletzt infolge der Pandemie – bei Jüngeren beobachten auch Hofbauer und Kopf. Arbeitsinhalte, der Sinn der Arbeit, Gestaltungsmöglichkeiten und auch die Rahmenbedingen der Arbeit hätten bei jüngeren Menschen einen größeren Stellenwert, so der AMS-Chef.

Personalmangel spitzt sich zu

Der Arbeitskräftemangel verursacht in Wien immer mehr Probleme. In der Gastronomie, im Handel, bei den Wiener Linien und im Gesundheitsbereich wird dringend Personal gesucht. Auch die Kritik am AMS wird dabei immer lauter.

Die Fragen der Arbeitsbedingungen und die Qualität der Arbeitsplätze würde wichtiger werden, konstatiert Hofbauer. Auch flexiblere Arbeitsmodelle würden mehr gefordert. Dabei gehe es nicht unbedingt darum, weniger zu arbeiten, sondern die Beschäftigung mit anderen Interessen – also etwa Weiterbildung oder ehrenamtliche Tätigkeiten – vereinbaren zu können. Wichtig sei aber, vom Einkommen auch leben zu können, das sei in der Praxis meist die Grenze.

Unternehmen müssen einlenken

Kopf meint, Unternehmen müssten angesichts des Arbeitskräftemangels verstärkt auf diese Wünsche der Bewerberinnen und Bewerber eingehen, um erfolgreich entsprechend qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter rekrutieren zu können.

In manchen Branchen seien diese Anforderungen aber auch gar nicht so schwierig, so Hofbauer: Im Tourismus, das habe sich, so Hofbauer, die AK vor kurzem angesehen, gehe es vielen Beschäftigten um gerechte Bezahlung, Einhaltung des Arbeitsrechts und vorhersehbare Arbeitszeiten – und freilich auch um klare Strukturen, Anerkennung und Wertschätzung.