Menschen vor dem Parlament in Athen
Reuters/Costas Baltas
Viele Baustellen offen

EU entlässt Griechenland aus Schuldenkrise

Nach zwölf Jahren Schuldenkrise feiert Griechenland am Samstag einen wichtigen Schritt in Richtung finanzpolitischer Selbstbestimmung: Das Land steht nicht mehr unter der verstärkten Überwachung der EU-Kommission. Für Regierungschef Kyriakos Mitsotakis schließt sich damit „ein schmerzhafter Kreislauf“. Die zwölf Jahre der Austeritätspolitik haben aber deutliche Spuren hinterlassen – und neue Krisen treffen ein fragiles System voller offener Baustellen.

Sein Land sei damit nicht mehr „das schwarze Schaf Europas“, kommentierte Mitsotakis von der konservativen Partei Nea Dimokratia (ND) die Ankündigung der Euro-Gruppe im Juni, die verstärkte Überwachung zu beenden. Der Schritt wurde von den Finanzministern der Euro-Länder bestätigt und von EU-Finanzkommissar Paolo Gentiloni genehmigt. Laut dem griechischen Finanzminister Christos Staikouras würdige die Entscheidung „die großen Opfer der griechischen Gesellschaft“. Griechenland habe den Großteil der verlangten Reformen erfolgreich – und gegen erhebliche Proteste der Bevölkerung – umgesetzt.

Im jüngsten Überwachungsbericht der EU-Kommission von Mai 2022 wird dem Land attestiert, trotz der erschwerten Situation durch Pandemie und Auswirkungen des Ukraine-Krieges die „notwendigen Maßnahmen“ gesetzt zu haben. Das Wirtschaftswachstum lag in den vergangenen Quartalen auch deutlich über dem Euro-Zonen-Schnitt – glänzend ist die Situation für das Land aber längst nicht.

Kyriakos Mitsotakis
Reuters/Alexandros Avramidis
Griechenland ist „nicht mehr das schwarze Schaft Europas“, so Premier Mitsotakis

Sichtbare Konsequenzen harter Sparvorgaben

Die Staatsverschuldung war mit 189,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im ersten Quartal 2022 immer noch die mit Abstand höchste aller EU-Staaten. Auch wenn die Banken große Fortschritte beim Abbau der Kreditrisiken melden, die Eigenkapitalausstattung der Institute ist schwach, die Quote notleidender Kredite mit 12,8 Prozent nach wie vor hoch.

Für die Bevölkerung hat die jahrelange unerbittliche Sparpolitik bis heute deutlich und täglich spürbare Konsequenzen, etwa in Form eines extrem zusammengesparten Gesundheitswesens. Die Arbeitslosigkeit ist zwar – nach zwischenzeitlich fast 30 Prozent – aktuell bei rund zwölf Prozent etwa auf demselben Niveau wie vor der Schuldenkrise 2010, im Europavergleich aber immer noch an der Spitze. Zudem stützt sich die Erholung des Arbeitsmarktes auf den postpandemisch boomenden Tourismus.

Unter dem Rettungsschirm

Griechenland hatte 2010 kurz vor dem finanziellen Kollaps um internationale Hilfe gebeten. In den Folgejahren erhielt Athen Milliardenkredite unter harten Spar- und Reformauflagen. Insgesamt überwiesen der Euro-Rettungsschirm ESM und sein Vorläufer EFSF über 200 Mrd. Euro an Griechenland. Die Rückzahlung der Kredite soll von 2034 bis 2060 laufen.

Arbeitsmarkt nachhaltig beschädigt

Dem Spardruck geschuldet wurden Kollektivverträge ausgehebelt und Arbeitnehmerrechte stark beschnitten. Dass der Mindestlohn für Vollzeitarbeit nun erst im Mai angesichts der hohen Inflation als Folge des Ukraine-Krieges von 663 Euro auf 713 Euro angehoben wurde, hilft vielen nicht weiter: Nirgends in der EU ist die Zahl der unfreiwillig Teilzeitbeschäftigten so groß wie in Griechenland, extrem viele Menschen arbeiten in prekären Beschäftigungsverhältnissen.

Am Beispiel des Tourismus wird die Misere deutlich: Trotz der hohen Arbeitslosigkeit konnte heuer laut Angaben des Instituts für Tourismusforschung (INSETE) jede fünfte Stelle in Hotel und Gastronomie nicht besetzt werden – zu schlecht sind die Arbeitsbedingungen und das Lohnniveau, vor allem auf den Inseln.

2021 waren laut Daten der griechischen Statistikbehörde (ELSTAT) ein Drittel der Einwohnerinnen und Einwohner in Griechenland von Armut bedroht oder betroffen. Viele – vor allem junge – Menschen mit höheren Bildungsabschlüssen wanderten angesichts schlechter Perspektiven in den vergangenen Jahren aus. Auch dieser „Brain-Drain“ bremst laut EU-Bericht die mittelfristigen Wachstumsaussichten und wird zu einer immer größeren Belastung für die Sozialsysteme.

Inflation und hohe Energiepreise kaum stemmbar

Sowohl Lohnniveau als auch Pensionen sind in Griechenland – EU-weit einzigartig – wesentlich niedriger als vor zwölf Jahren. Gleichzeitig wurden aber neue Steuern – etwa eine stark ausgeweitete Grundsteuer – eingeführt, die für zahlreiche Haushalte eine zusätzliche Belastung darstellen. Die aktuell hohe Inflation von 11,6 Prozent sowie die hohen Strom- und Treibstoffpreise sind für viele kaum mehr stemmbar. Wie viele andere Länder hat die Regierung unter Premier Mitsotakis bereits erste Hilfsprogramme aufgelegt und weitere angekündigt.

Mit dem Ende der verstärkten Aufsicht darf Griechenland jetzt die Auszahlung von 748 Millionen Euro erwarten. Dabei handelt es sich um Kursgewinne, die die Europäische Zentralbank (EZB) und nationale Euro-Notenbanken mit Stützungskäufen griechischer Staatsanleihen gemacht haben.

Eine weitere Rate soll Ende Oktober bewilligt werden – vorausgesetzt Athen setzt weitere, bisher unerledigte Reformschritte um. Dazu gehört, neben einem Abbau alter Bürokratiestrukturen mit einem großen Digitalisierungspaket, der Aufbau neuer Strukturen etwa im Bereich Steuerverwaltung und weitere – teils sehr umstrittene – Privatisierungen.