Viele Netzwerkkabel
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Beispiel Cherson

Russland „besetzt“ das ukrainische Internet

Die Besetzung ukrainischer Gebiete durch Russland hat auch Auswirkungen auf das Internet. In Cherson etwa wird bereits seit mehreren Monaten der gesamte Internetverkehr umgeleitet – und zwar über die von Russland annektierte Halbinsel Krim und von dort Richtung Russland. Das würde Überwachung und Sperren erleichtern, so die Befürchtung von Fachleuten. Damit werde der freie Zugang zum Netz stark eingeschränkt.

Wie die „New York Times“ („NYT“) berichtet, sollen sich nach dem russischen Einmarsch in Cherson auch bei Telekomunternehmen dramatische Szenen abgespielt haben: Internetanbieter erzählen von Soldaten, die die Mitarbeiter unter Androhung von Waffengewalt zur Aufgabe der Kontrolle gezwungen haben. Anschließend sollen russische Behörden den Internetverkehr umgeleitet, Dienste wie Facebook und Twitter blockiert und auch den Zugang zu Nachrichtenseiten eingeschränkt haben.

Entscheidender Wendepunkt war, so schreibt etwa das US-Netzwerküberwachungsunternehmen Kentik, ein mehrtägiger Internetausfall in Cherson Ende Mai. Bis dahin wurden Daten aus der Stadt in erster Linie über Kiew nach Europa transportiert. Zwar stellten einige Internetanbieter über die folgenden Tage ihre Verbindung wieder her – doch statt über Kiew ging der gesamte Datenverkehr nun über die Krim und von dort weiter Richtung Moskau.

Vom Netz zur Einbahnstraße

Das macht das Internet in der südukrainischen Stadt auch extrem zerbrechlich: Normalerweise haben Internetanbieter Verträge mit mehreren Partnern, so wird sichergestellt, dass Daten auf schnellstem Weg an ihr Ziel gelangen – und bei Ausfällen gegebenenfalls umgeleitet werden können. Erst diese Deals machen das Internet zu einem wirklichen Netz – ohne Nadelöhr, um das kein Weg herumführt.

Aktuell zeigt sich, dass es für praktisch alle Internetanbieter in Cherson aber eben nur noch einen einzigen Pfad gibt, nämlich über die Krim. Sollte es dort zum Ausfall kommen – oder der Zugang einfach abgeschnitten werden – gibt es auch in Cherson kein Internet mehr.

Eine Frau blickt auf ihr Handy in der ukrainischen Stadt Mykolaiv
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Der Internetzugang, wie hier etwa in Mykolajiw in der Nähe von Cherson, spielt im Krieg eine wichtige Rolle

Annexion der Krim als Grundstein

Auf der von Russland annektierten Halbinsel hat Moskau schon 2014 die Weichen für die Telekommunikation gestellt. Das russische Telekomunternehmen Rostelekom eröffnete dort einen Ableger unter dem Namen Miranda-Media, der jetzt der Knotenpunkt ist, über den auch Cherson ans Internet angebunden ist. Einziger Verbindungspartner von Miranda-Media ist Rostelekom, die Daten gelangen also weiter Richtung Moskau. Russland legte darüber hinaus auch ein 46 Kilometer langes Unterwasserkabel von der Hafenstadt Kertsch im Osten der Krim zum russischen Festland.

Das führte dazu, dass Verbindungen zu russischen Seiten schneller aufgebaut, Server in der Ukraine und im restlichen Europa dafür umso langsamer erreicht wurden, heißt es vom Kentik-Experten Doug Madory. Und das heiße für die Krim wie für Cherson: „Wenn der Datenverkehr durch Moskau geführt wird, hat die russische Regierung die Möglichkeit, Verbindungen mit der Außenwelt zu überwachen, abzufangen und zu blockieren“, so Madory.

Anbieter berichten von weitgehender Zensur

Dabei soll die Zensur in den russisch besetzten Teilen der Ukraine noch schärfer ausfallen als in Russland selbst: Die „NYT“ beruft sich auf Anbieter, die von Sperren von Google, YouTube und Messenger-Apps wie Viber berichten. „Wir erleben eine Besetzung des ukrainischen Internets“, zitiert das Blatt Alp Toker, Direktor von NetBlocks, einem Netzwerküberwachungsdienst mit Sitz in London.

Unklar ist, wie das RuNet, Russlands Vision eines eigenen, unabhängigen Internets, in diese Entwicklungen hineinspielt. Damit will sich Russland im Bedarfsfall vom Rest der Onlinewelt abtrennen können – entsprechende Gesetze wurden bereits 2019 auf den Weg gebracht. Seit Kriegsbeginn hat Russland seine Internetzensur jedenfalls rasant vorangetrieben, wie zuletzt etwa das Netzkulturmagazin „Wired“ berichtete.

Infrastruktur auch als militärisches Ziel

Darüber hinaus befürchtet der Experte Madory aber auch, dass Telekominfrastruktur in Cherson beschlagnahmt und an russische Unternehmen übergeben werden könnte. Das sei auch auf der Krim der Fall gewesen, so der Experte: 2014 warf das die ukrainische Telekom Ukrtelecom Russland vor, Moskau wiederum wies diese Vorwürfe zurück.

Eine Frau sitzt in Sevastopol auf einem Berg und schaut auf russische Kriegsschiffe im Hafen
Reuters/Yannis Behrakis
Auf der von Russland annektierten Halbinsel Krim, hier im Jahr 2014, wurde der Grundstein für die Netz-„Besetzung“ gelegt

Ähnliche Berichte gibt es auch aus Melitopol, über 200 Kilometer östlich von Cherson, berichtet die „NYT“. Laut einem Mitarbeiter eines Internetproviders würden die russischen Streitkräfte Infrastruktur zerstören. Auch Ausrüstung der Anbieter soll gestohlen worden sein – um die Leitung Richtung Krim zu stärken, hier sollen etwa zusätzliche Glasfaserkabel verlegt worden sein.

Wiederaufbau als Priorität – und eine provisorische Lösung

Das ukrainische Digitalministerium verweist gegenüber der „NYT“ darauf, dass die Wiederherstellung des Internets und des Mobilfunks eine der Prioritäten beim Wiederaufbau seien – oft unmittelbar nach der Rückeroberung von Gebieten. Gleichzeitig fürchte man, dass Russland auch bei der Netzinfrastruktur weiter vorrücke, es heißt, dass wie in Melitopol Glasfaserkabeln stark ausgebaut werden.

Doch gerade auf ukrainischer Seite spielt das Internet eine wesentliche Rolle: Einerseits als direktes Sprachrohr zur Außenwelt, andererseits aber auch zur Information der Bürgerinnen und Bürger, so wird etwa per App vor Raketenangriffen gewarnt. In den russisch besetzten Gebieten empfiehlt die Regierung den Einsatz von VPNs – damit können etwa Websitesperren umgangen werden. Vor einer möglichen Entscheidung Russlands, das Internet ganz zu kappen, schützt das jedoch nicht.