Besucherinnen und Besucher am Festival Grafenegg
ORF.at/Gerald Heidegger
Grafenegg

Ein großer „Fidelio“ auf der Wiese

Große Klassik, einfache Zugänge – dieses Motto schreibt sich das Festival Grafenegg auf die Fahnen. Es ist am Samstag vor ausverkauften Rängen mit einem konzertanten „Fidelio“ in Bestbesetzung in die Saison gestartet. Mehr Klang als in der Oper bot vor allem das Schweizer Gstaad Festival Orchestra. Auch die Wiesenplätze waren bis aufs Letzte belegt. Und man durfte sich denken: Endlich stören bei diesem Befreiungswerk keine ambitionierten Regieeinfälle.

„Wir spielten blinde Kuh am Rande eines ausbrechenden Vulkans“ – mit diesen Sätzen, meist sehr pathetisch intoniert von Schauspieler Peter Simonischek, wurde man durch einen „Fidelio“-Abend geführt, der nicht nur durch das Setting an diesem warmen Spätsommerabend anders war als andere Aufführungen dieser Oper. Ja, man wartete natürlich gespannt auf den Stargast des Abends, immerhin war ja Jonas Kaufmann als Florestan aufgeboten.

Dieser „Fidelio“ las sie wie der Rückblick und die Bewältigung einer Revolution. Das Scharnier war der Text „Roccos Erzählung“ aus der Hand des deutschen Germanisten Walter Jens, der die Sprechpartien der Oper in einem neuen Rahmen gefasst hat. Der Kerkermeister Rocco schreibt darin seinen Rückblick auf die Revolution aus der Sicht des kleinen Mannes, aber auch aus der Sicht des Dieners des Staates, der die Gesetze der Autokratie zu vollziehen hat. „Mut, das haben die da oben, nicht wir kleinen Leute“, fasste er seinen Rückblick auf die Befreiung einer Gesellschaft zusammen, die ja bei Beethoven in das Schicksal der unbändigen Liebe Leonores zu Florestan gelegt wird – und den Aspekt glorifiziert, „dass die Liebe einer Einzelnen einer ganzen Gesellschaft zuteil wird und sie ändert“.

„Kein Motto“, und dennoch

„Kein Motto“, das hat der künstlerische Leiter in Grafenegg, Rudolf Buchbinder, immer als seinen Festivalzugang ausgegeben. Eine Freiheitsoper in diesen Zeiten ist auch ein Bekenntnis zu einer offenen Kultur. Und bedenkt man, dass im Vorjahr noch Valery Gergiew hier zu Gast sein konnte, dann haben sich 2022 die Zeiten tatsächlich geändert.

Kleine statt große Gesten

Dass dieser Abend ohne große Gesten tatsächlich auch die Kraft eines politischen Statements hatte, wurde durch das Wechselspiel aus Erzählabschnitten und Orchesterführung deutlich. Jaap van Zweden, hauptberuflich in New York tätig, führte das Gstaader Festivalorchester, in dem sich tatsächlich die Ansammlung der besten Musiker der Schweiz aus unterschiedlichen Häusern verbirgt, und den Philharmonischen Chor Brünn mit der Lust auf Tempo und breiten Klang. Tatsächlich spielte dieser „Fidelio“ seine Stärken klanglich aus, denn in einem Operngraben bringt man selten eine derart große Aufstellung an Musikerinnen und Musikern unter wie hier – und sie wurde genutzt.

Beethoven, der an dieser Oper mehr als zehn Jahre verzweifelte, kann ja in allem, was er beim „Fidelio“ tut und denkt, den Symphoniker nicht verbergen – und auch das tat dem Abend gut. Von der ersten Arie der Marzeline, prägnant vorgetragen von Christina Landshammer, bis zum großen Schlussstück und dem Gemeinschaftschor war es fast ein Thesenabend zu einer gesellschaftlichen Befreiung. Sinead Campbell-Wallace gab eine mehr als überzeugende Leonore, nicht zuletzt auch im Wechselspiel mit Andreas Bauer Kanabas als Rocco. Patrick Grahl sang den Jaquino, die Spitzen des Staates waren mit Falk Stuckmann als Don Pizarro und Matthias Winckhler als Don Fernando ebenso überzeugend besetzt.

Besucherinnen und Besucher am Festival Grafenegg
ORF.at/Gerald Heidegger
Bis zum letzten Wiesenplatz war Grafenegg am Samstag gefüllt

Kaufmann sucht seinen Platz im Teamgefüge

Man könnte sagen, Kaufmann hatte es leicht, auf diese Basis sein Strahlen zu setzen – doch er tat es, indem er sich einfügte, selten in den Vordergrund drängte. Begeistert gefeiert wurde somit ein tatsächlich anderer „Fidelio“ und eigentlich ein symphonisches Befreiungsfest, könnte man fast sagen, in dem ein Stück philosophischer Reflexion lag: Was, wenn der Diener des Staates eben nicht mehr den Auftrag vollziehen kann, der in den Widersprüchen der staatlichen Anordnungen steckt? Ähnliche Problematiken hatte ja auch Ilja Trojanow bei seiner viel beachteten Eröffnungsrede zu den Salzburger Festspielen skizziert.

Und auch wenn Grafenegg-Hausherr Rudolf Buchbinder stets die Mottolosigkeit des Festivals betont, so war hier ein Eröffnungsstatement geliefert.

Programm mit starken Akzenten

Dieser bestbesetzte „Fidelio“ ist am Sonntagabend noch einmal in gleicher Aufstellung zu erleben. Flankiert wird das Programm gerade am langen Wochenende mit dem Montagsfeiertag noch mit einer Aufführung von Bruckners Siebter unter dem jungen spanischen Dirigenten Pablo Heras-Casado mit dem Anima Eterna Orchester aus Brügge. Und der junge Pianist David Fray tritt am Montagabend mit den Tonkünstlern in den Wolkenturm und präsentiert unter anderem Beethovens „Klavierkonzert Nr. 3 in c-Moll“.

Überhaupt schlägt in Grafenegg neben den Stars die Stunde der Jungen, etwa am kommenden Donnerstag mit dem European Union Youth Orchestra, das im Spätsommer Strawinskys „Sacre du Printemps“ vorlegen wird. Bomsori Kim, einer der neuen jungen Shootingstars, ist am Freitag dran, wenn Bruchs „Violinenkonzert“ und Bruckner auf dem Programm stehen.

Besucherinnen und Besucher am Festival Grafenegg
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Lust zur Wiese – an der linken Flanke im Wolkenturm durfte man den großartigen Klangkörper des Gstaader Festival Orchesters beinahe puristisch erleben

Grimaud und Capucon in einer Woche

Der Samstag darauf bringt dann wieder die ganz großen Stars, etwa wenn die Pianistin Helen Grimaud gemeinsam mit dem Pittsburg Symphony Orchestra unter Manfred Honeck Ravel mit Ravels Konzert für Klavier und Orchester antritt. Honeck selbst wird noch eine eigene Bearbeitung der „Suite“ aus der Richard-Strauss-Oper „Elektra“ im Finale präsentieren. Die Pittsburger treten so wie die Münchner Philharmoniker im Vorjahr dann gleich ein zweites Mal an – Solist ist der beinahe schon im Grafenegg-Heimspielstatus agierende Renaud Capucon.

Einem Höhepunkt wird das Festival entgegenstreben, wenn am 26. und 27. August das London Symphony Orchestra in Grafenegg zu Gast ist. Simon Rattle wird zunächst Ravel, Bartok und Sibelius bearbeiten, bevor es am zweiten Tag dann an Mahlers Zweite geht. Das Finale in Grafenegg gehört dem Hausherren, Rudolf Buchbinder, der gemeinsam mit den Wiener Philharmonikern am 3. September Ravels „Klavierkonzert in G-Dur“ spielen wird und mit den Tonkünstlern am Sonntag danach Schumanns Klavierkonzert.

Bleibt das Wetterglück dem Festival erhalten, dann darf man die große Klassik wieder in der Weite des Grafenegg-Parks erleben – oder sich bewusst von der Wiese an die Großen und Neuen des Fachs heranpirschen. Der Einstand war hier wie ein programmatisches Bekenntnis.