Das AKW, das größte in Europa, laufe aktuell mit dem Risiko, Sicherheitsstandards betreffend Strahlen- und Brandschutz zu unterlaufen, hieß es am Freitag in einem Bericht des US-TV-Senders CNN. Der ukrainische Betreiber machte den russischen Beschuss der Anlagen vergangene Woche für die zunehmende Gefahr verantwortlich, Einschläge nahe einem Reaktorblock am Donnerstag hätten den „sicheren Betrieb des AKW ernsthaft gefährdet“.
Das leistungsstärkste AKW in Europa mit sechs Reaktoren liegt rund 50 Kilometer von der gleichnamigen Stadt Saporischschja entfernt am Fluss Dnipro. Es befindet sich seit Monaten unter Kontrolle der russischen Armee, wird aber weiterhin größtenteils von ukrainischen Technikern betrieben. Für den wiederholten Beschuss der Anlagen machen einander die Ukraine und Russland gegenseitig verantwortlich.
AKW als „Schutzschild“?
Laut Energoatom gibt es inzwischen erhebliche Schäden an der Anlage, nicht direkt an Reaktorgebäuden, aber etwa an Sicherheitssystemen. Der AKW-Betreiber machte die russischen Einheiten im Land auch für dem Beschuss eines Feuerwehrstützpunktes außerhalb des Kraftwerksgeländes verantwortlich. Der grundsätzliche Vorwurf der ukrainischen Seite gegenüber der russischen Armee lautet, diese würde das AKW als eine Art Schutzschild missbrauchen.

Keine „adäquate Kontrolle“ über Betrieb
Sorgen, das AKW betreffend, hatte zuletzt auch der ukrainische Innenminister Denys Monastyrskyj geäußert. Es gebe keine „adäquate Kontrolle“ über dessen Betrieb, wurde er am Freitag zitiert. Das AKW, von der russischen Armee im März, also bereits kurz nach dem Angriff auf die Ukraine besetzt, läuft aktuell mit reduzierter Kapazität.
Der Beschuss der unmittelbaren Umgebung des Kraftwerks in den letzten Tagen mit Artillerie und Granatwerfern hatte zuletzt die IAEA auf den Plan gerufen. Sie sprach am Donnerstag von einer „bedenklichen“ bzw. „alarmierenden“ Situation – sieht aber, zumindest bisher, keine akute Bedrohung von dem AKW ausgehen.
Allerdings, so die Behörde mit Sitz in Wien, könnte sich die Lage jederzeit ändern. Für den ukrainischen Innenminister war das Grund genug zu erklären, sein Land bereite sich auf jedes mögliche Szenario vor. Auf dem Gelände lagerte militärisches Material der russischen Armee, sagte Monastyrskyj. Das sei eine Bedrohung allerhöchsten Grades. Die Ukraine wirft Russland vor, eine Inspektion der Anlage durch die IAEA zu verhindern.
IAEA sieht vorläufig noch keine Bedrohung
„IAEA-Experten haben vorläufig festgestellt, dass keine unmittelbare Bedrohung der Sicherheit infolge des Beschusses oder anderer militärischer Aktionen besteht. Das kann sich jedoch jederzeit ändern“, hatte IAEA-Chef Rafael Grossi am Donnerstag bei einer Dringlichkeitssitzung des UNO-Sicherheitsrates in New York erklärt.
Er forderte Moskau und Kiew vor dem Sicherheitsrat auf, einen Besuch internationaler Experten schnell zu ermöglichen. „Ich persönlich bin bereit, eine solche Mission zu leiten.“ Ohne physische Präsenz von Vertretern der IAEA könnten wichtige Fakten nicht zusammengetragen werden.
Unklarheit über Entsendung von Fachleuten
Unklarheit gab es weiter darüber, ob eine Gruppe von UNO-Experten zu dem AKW entsendet werden kann. „Wir sprechen von einem Kernkraftwerk mitten auf einem Schlachtfeld“, sagte UNO-Sprecher Stephane Dujarric am Donnerstag. Das bringe enorme Sicherheitsbedenken für die Angestellten der Vereinten Nationen mit sich.

Auch die USA fordern eine internationale Expertenmission. „Dieser Besuch kann nicht länger warten“, sagte die amerikanische Unterstaatssekretärin für Rüstungskontrolle, Bonnie Jenkins, im UNO-Sicherheitsrat. Zudem seien den USA Vorwürfe der Misshandlung des ukrainischen Personals durch russische Soldaten bekannt. „Ukrainische Mitarbeiter müssen ihre wichtigen Aufgaben frei von dem Druck der russischen Streitkräfte erfüllen können“, so Jenkins.
UNO ruft zu Einstellung der Kampfhandlungen auf
Die USA wollen außerdem eine entmilitarisierte Zone um das Kraftwerk. „Kämpfe in der Nähe eines Kernkraftwerks sind gefährlich und unverantwortlich“, sagte ein Sprecher des US-Außenministeriums am Donnerstag. „Wir fordern Russland weiterhin auf, alle Militäreinsätze in oder in der Nähe ukrainischer Kernkraftwerke einzustellen und die volle Kontrolle an die Ukraine zurückzugeben. Und wir unterstützen die ukrainischen Forderungen nach einer entmilitarisierten Zone um das Kernkraftwerk herum.“
Zuvor kam es auch zu einem Appell von UNO-Generalsekretär Antonio Guterres: Er rief dazu auf, „umgehend“ sämtliche militärische Aktivität rund um das Kraftwerk einzustellen und „nicht darauf zu zielen“. Wie die Ukraine und die USA sprach auch er sich für eine entmilitarisierte Zone aus. Sollten die „zutiefst beunruhigenden Vorfälle“ rund um das Atomkraftwerk andauern, könnten sie „ein Desaster auslösen“, so Guterres.
Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell forderte Freitagabend einen sofortigen Abzug russischer Truppen aus dem besetzten Kraftwerk in der Südukraine. Das AKW dürfe nicht in militärische Auseinandersetzungen hineingezogen werden, schrieb Borrell auf dem Kurznachrichtendienst Twitter.
Gegenseitige Schuldzuweisungen
Zuletzt wurde das Kraftwerk erneut beschossen, wobei sich Russland und die Ukraine gegenseitig die Verantwortung für den Angriff zuschoben. Das ukrainische Energieunternehmen Energoatom erklärte, es habe fünf russische Angriffe nahe einem Lager mit radioaktiven Substanzen gegeben. Ein Vertreter der prorussischen Behörden in der Region, Wladimir Rogow, schrieb im Onlinedienst Telegram, ukrainische Truppen hätten die Atomanlage erneut beschossen.
Später schrieb Energoatom, dass bei dem Beschuss Sensoren beschädigt wurden. Das berichtete die französische Nachrichtenagentur AFP und berief sich auf eine Telegram-Mitteilung. Die Angaben lassen sich nicht überprüfen. „Die Situation spitzt sich zu, radioaktive Substanzen befinden sich in der Nähe, und mehrere Strahlungssensoren wurden beschädigt“, hieß es weiter.
Größtes AKW in Europa
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj warnte am Donnerstag, Russland könne in Saporischschja „die größte atomare Katastrophe in der Geschichte“ verursachen. Russland sei ein „terroristischer Staat“, der das Atomkraftwerk im Ukraine-Krieg als „Geisel“ nehme und zur „Erpressung“ nutze. Russland wiederum wirft der ukrainischen Armee vor, mit Angriffen die Sicherheit des Kraftwerks zu gefährden.
Ein Unfall im größten Kernkraftwerk Europas wäre wie ein Atomschlag, nur ohne den Einsatz von Atomwaffen, sagte Selenskyj in Kiew. Die ganze Welt solle sich dafür einsetzen, dass russische Truppen Saporischschja verlassen. „Das ist ein globales Interesse, nicht nur ein ukrainisches Bedürfnis.“ Erst wenn die Ukraine das AKW wieder kontrolliere, sei die atomare Sicherheit für ganz Europa gegeben.