Frau sieht sich auf einem Laptop die Webseite news.ORF.at an
ORF.at/Christian Öser
25 Jahre „Blaue Seite“

Fakten und Debatten im Sommer 2022

Eigentlich könnte es ein Sommer der Feierlaune sein. Vor 25 Jahren sind die Pioniere unter den heimischen Medien in die Welt des World Wide Web, wie man damals noch gerne sagte, eingestiegen. DerStandard.at war der Erste. Und der ORF? Er ging, angeführt vom ORF-Medienstrategen Franz Manola, mit einer Seite ins Rennen, die die „Blaue Seite“ genannt wurde und wird – und die momentan für erregte Debatten sorgt. Zu Beginn war die Seite sogar zartlila und versuchte, die Paneelsprache des Fernsehens weiterzudenken. Mit einer Zeitung sollte ORF.at nie etwas zu tun haben.

Wenn man konservativ sein wollte, dann könnte man sagen: Im digitalen Zeitalter gelten die Kriterien, die schon in allen Medienbibeln auch für das lineare Zeitalter festgelegt wurden. Und die lauten: klare Identität, klare Wiedererkennbarkeit. „Zeitungen sind ein Schaumbad, in das man sich gerne hineinlegt“, soll Herbert Marshall McLuhan einmal interessierten Printverlegern auf die Frage entgegengehalten haben, wie man denn die ideale Aufmacherseite gestalte. Jene Medien, die mit einer klaren Identität 1997 ins Abenteuer Internet gestartet sind, sind auch heute noch vorne dabei.

„Der Standard“ tat es in seinem Lachsrosa – der ORF entschied sich für ORF.at für eine blaue Farbwelt, in der die Bilder im Hintergrund der Moderation zu einem Nachrichtenbeitrag schlicht nebeneinanderliegen sollten und mit einem kurzen Headline-Text versehen wurden. Die horizontale Ordnung der Beiträge sollte die Nutzerinnen und Nutzer intuitiv entscheiden lassen, welches Thema sie lesen wollen.

Bildtteil von ORF.at am 24. Juli 1997
ORF.at
ORF.at am 24. Juli 1997: Der Start der „Blauen Seite“ in den Regelbetrieb. Optimiert für zarte Modems.

Gut gemeinte Tipps, klare Linie

Ergänzt wurde dieser Aufmacherbildteil durch Kurzmeldungen, die letztlich anzeigten: Wenn man ein Bild oder eine Headline anklickt, folgt ein Text. Von Anfang an wollte und sollte ORF.at Videos und Audios integrieren. Ein All-Time-High integrierter Videos in der Frühphase von ORF.at war der Nagano-Sturz von Skistar Hermann Maier 1998. Die Lehre schon damals: Videos funktionieren im Kontext einer Nachrichtenwebsite dann, wenn sie im richtigen Kontext auftauchen.

ORF.at blieb dieser Losung – entgegen vielen gut gemeinten Tipps von Medien- und Relaunch-Strategen – treu. Onlinehypes – von der Tabletoptimierung bis zum Social-Media-Diktat – kamen und gingen. Und Nachrichtenwebsites, die voll Hoffnung ihr Konzept deshalb auf den Kopf stellten, sahen vielleicht kurz frisch, sehr schnell aber auch wieder ganz alt aus.

Dass heute große deutsche Anbieter mit ihrer Mediathekenstrategie unglücklich sind, ist letztlich dem Umstand geschuldet, dass man sehr von der Leistung der eigenen Mediatheken, mehr noch der eigenen Fernseh- oder Radiomarken überzeugt war – die sich aber nicht eins zu eins ins Web übertragen ließen. Auch viele österreichische Medien, von der „Krone“ abwärts, mussten ein paar Haken schlagen, bis sie ihren Weg und ihre Identität online gefunden hatten.

„So selbstverständlich wie das Wasser aus der Leitung muss ORF.at daherkommen – frisch, verlässlich – und ohne jede geschmackliche Schlagseite“, gab Manola als Gründer das Motto für die „Blaue Seite“ aus.

Sommer 1997: ORF.at-Gründer Franz Manola erklärt die Mission der „Blauen Seite“

Alles auf einen Blick – ein Grundprinzip

ORF.at wurde in seinen Anfangsjahren gerne belächelt. Das Publikum sah das freilich anders, weil es sich an den One-Stop-Überblick von Bild- und Textteil zu gewöhnen schien. Und bis zur Gegenwart und dem schrittweisen Ausbau des ORF.at-Netzwerks mit Angeboten bis in die Länder und der Integration von Videos (tvthek.ORF.at) und Audiobeiträgen (radiothek.ORF.at bzw. Player-Modul Sound) gewohnt ist, von der Startseite bis in die Tiefe des Angebots geführt zu werden.

1997 waren alle Logiken auf den Desktop-PC ausgerichtet – das Smartphone war noch nicht erfunden. Auch für die Nutzung galten Browser als Standard, die auf Namen wie Netscape Navigator hörten. Man „googelte“ damals noch nicht, sondern suchte im Netz der ungemeinen Möglichkeiten mit Suchmaschinen, die so klingende Namen wie Austronaut trugen.

Damals wie heute wurde die „Blaue Seite“ in einer Tochterfirma des ORF, der ORF Online und Teletext GmbH & Co KG, hergestellt. Damals wie auch im Sommer 2022 sind „Blaue“ und „Gelbe Seite“, also sport.ORF.at, nicht gebührenfinanziert, sondern trugen sich schon wenige Jahre nach Gründung durch Werbeerlöse selbst. Zum Teil geschuldet ist das auch dem Faktum, dass ORF.at bis heute aus einem Redaktionsteam besteht, dessen Größe nur einem Bruchteil jener der Mitbewerber entspricht.

Traum und Wirklichkeit

Als ORF.at am 24. Juli 1997 ins Netz ging, sah die Realität der Internetnutzung so aus: Gerade zwölf Prozent der Österreicherinnen und Österreicher über 14 Jahre „surften“, wie man damals gerne sagte, im Internet, gerade die Hälfte davon tat das „intensiv“. Intensiv hieß damals: mehrmals die Woche. Fünf Prozent verfügten zu Hause über einen Internetzugang – also ein Modem zum Einwählen per Telefon. 2001 waren es bereits 42 Prozent.

Otto Waalkes und ORF.at 1997 in der ZIB2

Legendär war der Wien-Besuch es deutschen Komikers Otto Waalkes und sein ZIB-2-Auftritt mit Ingrid Thurnher, bei dem die Moderatorin fast nicht zu Wort kam.

Sahen die einen die grenzenlose Demokratisierung und Etablierung eines Netzdialoges, bei dem jede und jeder das gleiche Standing hätte, ja Medien obsolet würden, träumten die anderen zwischen Silicon Valley und Start-ups von grenzenlosen Geschäften. Das Internet schien unendlich viele Möglichkeiten zu bieten – vor allem um Geld zu verdienen. Die meisten dieser Träume zerschellten im März 2000 beim Platzen der Dotcom-Blase. Bis heute ist die Geschichte des Internets eine Geschichte vieler zu hoher Erwartungen und gescheiterter Geschäftsideen. Doch es gibt auch Erfolgsstorys – vor allem, wenn man sich an der Realität orientierte.

Frau sieht sich auf einem Laptop die Webseite science.ORF.at an
ORF.at/Christian Öser
Von der Startseite in die Tiefe und den Umfang des Angebots: Beispiel science.ORF.at

Das Match um die Vormacht im Netz, es wurde damals übrigens mit den Telekommunikationsunternehmen ausgefochten, die allesamt auf Nachrichtenangebote im Internet setzten und dort große Expansionen versprachen. Neue Multiplattformen aus „Content“ und „Commerce“ mit entsprechenden URLs und Namen wurden gelauncht – in Österreich etwa die Plattform Lion CC, bei der heute nur wenige dabei gewesen sein wollen.

Ein Fernsehen für die Verleger: 2022 erinnert an 1972

Blickt man auf die Mediendebatten des Sommers 2022, fühlt man sich freilich eher an das Jahr 1972 erinnert denn an das digitale Wendejahr 1997. Wieder einmal lautet im Schatten der Verhandlungen über eine Mediengesetznovelle und damit über ein neues ORF-Gesetz, das die Nutzungsbedürfnisse auch gegenüber einem öffentlich-rechtlichen Medium abbildet, das Match ORF versus Verleger. Das gab es schon im Jahr 1972, als die Zeitungsverleger angeführt von ihrem damaligen Präsidenten Hanns Sassmann beim frisch gewählten SPÖ-Bundeskanzler Bruno Kreisky um die Einrichtung einer Medienförderung anklopften.

Damals kam der Vorschlag in die Welt, der ORF möge doch seine TV-Kanäle den Zeitungsverlegern „vermieten“ und aus den Mieteinnahmen seine Lücken bei der Gebührenfinanzierung schließen. Damals gab es noch kein böses ORF Online – und dennoch eine hitzige Debatte über Medieneinnahmen und Werbeerlöse. Die Vermietoption brachte Kreisky ja selbst ins Spiel; freilich weniger, um den Verlegern eine Freude zu machen, vielmehr, um den ihm verhassten Gerd-Bacher-ORF in die Knie zu zwingen.

ORF.at und die Abooptionen der Verleger

Jetzt, in der Gegenwart, stehen die Verleger, wie sie selbst sagen, vor der Situation, dass man neben einer freien ORF.at-Seite keine Abobezahlmodelle errichten könne. Sollte der ORF im Digitalbereich neue Möglichkeiten bekommen, also etwa das Fallen der Siebentagebeschränkung für Videos, drohe eine, wie es der Geschäftsführer des Verbandes Österreichischer Zeitungen (VÖZ), Gerald Grünberger, ausdrückte, „mediale Bodenversiegelung“.*

Die Mediensprecherin von NEOS, Henrike Brandstötter, zündete mit ihrem „Streitschrift“-Kommentar im „profil“ eine Debatte, die sich wie die verdichtete Berichterstattung zum Schicksal der „Blauen Seite“ durch verschiedene Medien des VÖZ liest. Mit Blick auf den weiteren Verlauf der Verhandlungen über eine ORF-Digitalisierungsnovelle erinnert die Debatte in Ansätzen an die „No Billag“-Kampagnen in der Schweiz, wo sich 2018 die Bevölkerung in einer Abstimmung dann doch für die Beibehaltung der Rundfunkgebühren aussprach. In Deutschland sind ihre Überlegungen auch jüngst in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ („FAZ“) angekommen und treffen dort offenkundig verlegerische Interessen gegenüber den Öffentlich-Rechtlichen.

Zuletzt wurden in der heimischen Debatte die Grünen und deren Mediensprecherin Eva Blimlinger als „Bollwerk“ des ORF bezeichnet. Die ÖVP als größere Regierungspartei hält sich zu dem Thema bedeckt und verweist auf laufende Verhandlungen im Ressort von Ministerin Susanne Raab.

Fakten zu ORF.at
zukunft.ORF.at

Die von Brandstötter geforderte Einstellung der „Blauen Seite“ zum Erhalt der Medienvielfalt wurde von ORF-Generaldirektor Roland Weißmann als „No-Go“ abgelehnt. Über das Ausmaß der Berichterstattung und die vermehrte Einbindung von Bewegtbild und Medieninhalten im ORF.at-Netzwerk dürfte verhandelt werden.

Warnungen aus der Wissenschaft

Die Stimmen aus der Kommunikationswissenschaft fielen – auch aus demokratiepolitischer Perspektive – recht eindeutig aus. „Die blaue Seite von ORF.at abzuschaffen, ist eine sehr schlechte Idee“, meint Josef Trappel, Leiter des Fachbereichs Kommunikationswissenschaft an der Uni Salzburg. Ähnlich sahen es Petra Herczeg, Vizestudienprogrammleiterin am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Uni Wien, Medienhaus-Wien-Geschäftsführer Andy Kaltenbrunner und Fritz Hausjell, stellvertretender Vorstand des Instituts für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Uni Wien.

Medienexperte Kaltenbrunner nennt ORF.at den „ersten nationalen Nachrichtenanker“. Für eine hochstehende und vielfältige Versorgung der Bevölkerung mit Information, Bildung und Unterhaltung sei der ORF in den Kanälen Fernsehen, Radio und Internet zuständig, meinte Trappel. Dass der ORF in seinen Möglichkeiten im Netz schon jetzt eingeschränkt sei, daran erinnerte Herczeg in der Debatte. „Jetzt ORF.at im Textbereich teilzukastrieren, hilft der privatwirtschaftlichen Konkurrenz nicht und schon gar nicht den Bürgerinnen und Bürgern“, hielt Hausjell fest. „Niemand kommt heute bei der Debatte, wer was im Onlinejournalismus darf, umgekehrt auf die Idee, den Verlegern ein Limit bei der Einbindung von Audio- und Video-Content aufzuerlegen.“

Beitrag von Robert Menasse zu Brandstötter
Screenshot FB-Auftritt „profil“
Robert Menasses Kommentar zu Brandstötter auf Facebook

Auf der Suche nach den Fakten

Was in der Debatte über die Möglichkeiten des ORF als Erstes starb, war die Treue zu den Fakten. Brandstötter unterstellte etwa ORF.at eine Zahl von „über drei Millionen Leserinnen und Lesern jeden Tag“ (es sind tatsächlich laut neuesten Erhebungen der Österreichischen Webanalyse (ÖWA) durchschnittlich rund 1,5 Millionen für das Einzelangebot), um wenig später in einem Text im „Standard“ zu argumentieren, der Erfolg von ORF.at beruhe im Grunde auf dem Erfolg der Sportseiten (die tatsächlich ein Drittel der Quote von news.ORF.at ausmachen).

Warum man die „Blaue Seite“ abdrehen müsse, wenn eigentlich die Sportseite die erfolgreiche sei, erschloss sich dabei nicht zur Gänze. Auch die Behauptung, der ORF finanziere mit Gebührengeld seinen Erfolg im Netz, wie im „Kurier“ aufgestellt, ist eine der Behauptungen in der Debatte, die nicht zutreffen. Und Brandstötters Aussage in einem Interview gegenüber der „FAZ“, ORF.at hätte bis zu fünf Redakteure in den „Ibiza“-Untersuchungsausschuss geschickt, ist schlicht falsch. Tatsächlich sind es zwei pro Termin gewesen, die von einem Fotografen oder einer Fotografin begleitet wurden.

2010 drängte man von Verlegerseite den ORF zur Einstellung seiner IT-Plattform futurezone.ORF.at. Der Kanal mit seinen damals täglich rund 70.000 Abrufen war eines der genuin öffentlich-rechtlichen Angebote im Digitalbouquet des Unternehmens. Fünf Journalistinnen und Journalisten beschäftigte man für das Recherchieren von Hintergründen im Bereich Netzwelt für diesen Kanal. Dieser müsse wegen seiner marktverzerrenden Stellung weg, lautete die Forderung der Verleger, der man damals nachkam. Schon damals passten Erregung und Faktenlage nicht zusammen.

Zahlen zum Interpretieren liegen jedenfalls vor, sowohl in der gerade frisch überarbeiteten ÖWA als auch im Bereich des ORF: in der ORF-Medienforschung und im Public-Value-Büro, das laufend in zukunft.ORF.at über alle Aufgaben und Nutzungsszenarien des Hauses Auskunft gibt. In der Debatte über die Zukunft des heimischen Digitalmarktes muss zumindest niemand im Trüben fischen.

*Erratum: Das „Bodenversiegelung“-Zitat wurde in der Erstversion fälschlicherweise Henrike Brandstötter zugeordnet. ORF.at bedauert den Fehler.