Informationen über zahllose mutmaßliche Kriegsverbrechen werden über soziale Netzwerke verbreitet, gestützt auf Fotos, Videos oder Aussagen von Opfern. Kaum ein Krieg ist so gut dokumentiert wie dieser. Doch um daraus Fälle zu machen, die auch vor Gericht Bestand haben, Täter zu verurteilen und Opfern Gerechtigkeit zukommen zu lassen, ist aufwendige Detailarbeit gefragt.
Aufgearbeitet wird etwa der Einschlag einer Rakete in ein neunstöckiges Wohnhaus im Zentrum von Kiew am 26. Juni. Bereits kurze Zeit nach der Detonation, die Aufräumarbeiten waren noch im Gange, traf Sascha Romanzowa, Geschäftsführerin der ukrainischen Menschenrechtsorganisation Center for Civil Liberties, an Ort und Stelle ein. Sie machte mit ihrem Smartphone Fotos und Videos von dem zerstörten Gebäude.
Was ein Angriffsziel sein darf
In minutiöser Kleinstarbeit begutachtet sie jeden Teil des Wohnhauses. Gegenüber ORF.at erklärt sie, was sie macht: „Die Fotos und Videos helfen uns dabei, den Tathergang später zu rekonstruieren. Wir müssen herausfinden, woher der Beschuss kam, was alles zerstört wurde und ob es sich bei dem Angriff um ein legitimes Ziel handelte oder nicht.“ In einem Krieg ist nicht jeder Angriff gleich ein Kriegsverbrechen. Abzuwägen, ob ein Angriff militärstrategisch gerechtfertigt ist oder nicht, ist oft eine Gratwanderung.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite des Wohngebäudes etwa befand sich eine stillgelegte Waffenfabrik aus der Sowjetzeit. Für Sascha Romanzowa dennoch kein legitimer Grund, ein so dicht besiedeltes Wohngebiet zu bombardieren, zumal die Waffenfabrik seit Jahrzehnten nicht mehr in Betrieb war.
Schwerwiegende Verstöße gegen Völkerrecht
Die Definition von Kriegsverbrechen ist schwierig, oft nicht ganz eindeutig und unterliegt spezifischen internationalen Normen. Es geht dabei um schwerwiegende Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht während eines bewaffneten Konflikts. Kriegsverbrechen dürfen aber nicht mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermord verwechselt werden, die auch unter anderen Umständen stattfinden können.
Der Begriff Kriegsverbrechen wurde im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofes definiert und ist abgeleitet aus den Genfer Konventionen von 1949. Er beruht auf der Idee, dass Einzelpersonen für die Handlungen eines Staates oder seines Militärs zur Verantwortung gezogen werden können.
Folter und Vergewaltigungen
Die Liste der Handlungen, die als Kriegsverbrechen definiert werden können, ist lang: Willkürliche Tötung, Geiselnahmen, unmenschliche Behandlung von Kriegsgefangenen, Folter, Vergewaltigungen sind nur einige der Vergehen.
Doch das Kriegsrecht schützt nicht automatisch jeden Zivilisten. Überfälle auf Städte und Dörfer, Bombardierungen von Wohngebäuden, sogar die Tötung von Zivilistinnen und Zivilisten, all das muss nicht immer automatisch ein Kriegsverbrechen sein. Solche Angriffe können auch militärisch gerechtfertigt sein.
TV-Hinweise
Das „Weltjournal“ widmet sich am Mittwoch um 22.30 Uhr unter dem Titel „Ukraine – Die Wahrheit unter Trümmern“ den Kriegsverbrechen in der Ukraine – mehr dazu in tv.ORF.at. Auch die ZIB2 bringt am Mittwoch um 22.00 Uhr einen Schwerpunkt zum Ukraine-Krieg – mehr dazu in tv.ORF.at.
Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit
Das internationale humanitäre Völkerrecht hat daher drei Prinzipien etabliert, um festzustellen, ob eine Einzelperson oder das Militär ein Kriegsverbrechen begangen hat: Unterscheidung, Verhältnismäßigkeit und Schutzmaßnahmen. Die Konfliktparteien müssen immer zwischen Zivilbevölkerung und zivilen Objekten und Militär und militärischen Einrichtungen unterscheiden. Weder die Zivilbevölkerung als Ganzes noch einzelne Zivilistinnen und Zivilisten dürfen grundlos angegriffen werden.
Wenn Angriffe zu unnötiger Zerstörung, Leid und Opfern führen, die den militärischen Nutzen der Aktion übersteigen, können sie als Kriegsverbrechen gewertet werden.
Umgekehrt ist auch die angegriffene Partei verpflichtet, ihre Bevölkerung so gut wie möglich zu schützen. Und das Prinzip der Verhältnismäßigkeit verbietet es den Streitkräften, mit unverhältnismäßiger Gewalt zu reagieren.
Kriegsverbrechen als Taktik
Ende März etwa gingen Bilder von mutmaßlichen Kriegsverbrechen, die sich in dem kleinen Kiewer Vorort Butscha ereignet hatten, um die ganze Welt. Innerhalb nur weniger Tage ermordeten die russischen Truppen hier mehr als 400 Menschen. Die meisten Opfer wurden einfach auf offener Straße liegengelassen. Danach zogen sich die russischen Truppen aus der Gegend zurück.
Spätestens seit Butscha stand fest, dass der Krieg in der Ukraine zu einem brutalen und langwierigen Stellungskrieg geworden war. Für Soldaten bedeutet das harte und lange Gefechte auf beiden Seiten der Front. Kriegsverbrechen zu begehen ist auch eine Taktik, um die Widerstandskraft der Bevölkerung zu brechen und ein Land in die Knie zu zwingen.
„Wahllos auf jeden geschossen“
Vadim ist 19 Jahre alt, lebt in Butscha und hat von seiner Wohnung aus die Gräueltaten beobachtet: „Die Soldaten waren meistens betrunken. Jeden Tag um 9.00 Uhr in der Früh sind sie mit den Panzern durch die Straßen gefahren und haben wahllos auf jeden geschossen, den sie gesehen haben.“
Vor der Garage neben seinem Wohnhaus erzählt Vadim, dass sein Vater am 27. Februar, noch bevor die ersten Truppen in Butscha waren, die Wohnung kurz verlassen hatte, um Zigaretten zu kaufen: „So gegen 16.00 Uhr habe ich gehört, dass es angefangen hat. Ich habe Schüsse gehört und Panzer. Ich habe versucht, meinen Vater anzurufen, aber es gab schon kein Netz mehr und auch kein Licht.“
Mit Granate auf Zivilisten
Vadims Vater dürfte den russischen Soldaten direkt in die Arme gelaufen sein. Aus Erzählungen von Nachbarn weiß er, dass sein Vater mit einigen anderen Männern und einer Frau in eine Garage flüchtete und sie von innen verriegelte. Durch ein Lüftungsrohr haben die Soldaten eine Granate hineingeworfen. Es kam zur Explosion, die Garage brannte vollkommen aus. Von der örtlichen Polizei hat Vadim vor Kurzem mehrere Fotos zugeschickt bekommen, die die Überreste von Kreditkarten und einer Hose zeigen. Anhand dieser Fotos soll er nun seinen Vater identifizieren, dessen sterbliche Überreste beinahe komplett verbrannt sind.
Als „Verbrannte Erde“ bezeichnet man eine uralte militärische Taktik im Krieg, bei der systematisch zivile Infrastruktur zerstört wird, damit sie der Gegner nicht mehr nützen kann und Zivilistinnen und Zivilisten angegriffen werden, um sie zu demoralisieren. Ganze Ortschaften wurden in der Ukraine bereits dem Erdboden gleichgemacht, reihenweise Wohnhäuser zerstört, Supermärkte, Krankenhäuser, Theater.
Eine Gesetzeslücke als Problem
Die Aufklärung von Kriegsverbrechen ist derzeit auch ein großes innenpolitisches Thema in der Ukraine. Es geht dabei um die künftige Geschichtsschreibung. Wem und wie wird man nach dem Krieg gedenken? Es geht aber auch um profane Dinge, wie Entschädigungszahlungen für Opfer und um die Frage, ob die ukrainische Justiz überhaupt imstande ist, eine so große Anzahl an Verbrechen zu verfolgen. Auch wenn seit Wochen internationale Ermittler vor Ort sind und der internationale Strafgerichtshof in Den Haag Anklagen plant, das Gros der Kriegsverbrechen müssen die Ukrainerinnen und Ukrainer selbst aufklären.
Doch das Vertrauen der Bevölkerung in das ukrainische Rechtssystem war in den vergangenen Jahren nicht sehr groß. Es gab zahlreiche Vorwürfe wegen Korruption und Straftaten, die nie vor Gericht landeten. So ist für die Schüsse auf Demonstrantinnen und Demonstranten am Maidan 2014 kaum jemand verfolgt worden, auch nicht für die Ermordung zweier prominenter ukrainischer Journalisten oder für die Vergiftung des früheren Präsidenten Wiktor Juschtschenko.
Beispielgebende Verurteilung
Unter großer medialer Aufmerksamkeit wurde daher am 23. Mai 2022 in Kiew der erste russische Soldat zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Vadim S. hatte Ende Februar einen unbewaffneten Zivilisten erschossen. Er ging in Berufung und Ende Juli wurde sein Strafmaß auf 15 Jahre gesenkt.
Kriegsverbrechen in der Ukraine zu verfolgen ist ein schwieriges Unterfangen. Denn Bestimmungen dazu sind im ukrainischen Strafgesetzbuch bis dato nur rudimentär verankert, Verbrechen gegen die Menschlichkeit etwa gar nicht. „Derzeit haben wir nur einen Artikel zu Kriegsverbrechen in unserer Legislatur, der nur schwer verwendbar ist, wenn man viele verschiedene Arten von Kriegsverbrechen verfolgen muss, wie zum Beispiel Folter oder Vergewaltigung“, erklärt Yuriy Belousow, Leiter der Abteilung für Kriegsverbrechen in der Generalstaatsanwaltschaft in Kiew.
Will man solche Straftaten als Kriegsverbrechen verfolgen, müssen komplizierte rechtliche Umwege gegangen werden. „Es gibt bereits mehrere Gesetzesentwürfe, um das zu beheben, aber leider wurden diese bis jetzt nicht angenommen.“
Auch ukrainische Kriegsverbrechen
Warum diese Gesetzesentwürfe seit Jahren nicht von der Regierung unterzeichnet wurden, könnte mit der Befürchtung zusammenhängen, dass damit auch vermehrt ukrainische Militärangehörige wegen Kriegsverbrechen angeklagt werden müssten, was gerade jetzt wohl nicht im Interesse der Staatssicherheit ist, beschreibt Inga Zelena vom Zentrum für osteuropäisches Recht der Universität Graz das Tauziehen rund um das Gesetz.
Die Situation im ukrainischen Justiz- und Sicherheitsapparat bleibt jedenfalls angespannt. Mitte Juli wurde überraschend die leitende Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa, eigentlich eine enge Verbündete von Präsident Wolodymyr Selenskyi, ihres Amtes enthoben, ebenso der Chef des Geheimdienstes. Hintergrund seien zahlreiche Verdachtsfälle von Landesverrat und Kollaboration mit Russland durch Beamte in den Behörden.
Gerechtigkeit gefordert
„Egal was passiert, in diesem Krieg werden Millionen Menschen Gerechtigkeit fordern!“ Menschenrechtsaktivistin Romanzowa begutachtet ihre Fotos und Videos des zerstörten Wohnhauses in Kiew. Drei Menschen sind bei dem Angriff gestorben, unter anderem der Vater eines siebenjährigen Mädchens. Er hatte versucht, seine Tochter mit seinem eigenen Körper zu schützen und ist dabei tödlich verletzt worden. Das Mädchen wurde in ein Krankenhaus transportiert.
Diesen Krieg vollständig aufzuarbeiten, die Geschichten der Opfer zu dokumentieren und Täter vor Gericht zu bringen, wird wohl Generationen beschäftigen. Ob es überhaupt gelingen wird, bleibt unklar. „Darüber versuche ich gar nicht nachzudenken“, sagt Romanzowa. „Ich konzentriere mich auf meine Arbeit und mache einfach weiter, so lange, wie es eben sein muss.“