Zwei Masken auf rotem Untergrund
Getty Images/stilllifephotographer
Neuer Gstrein-Roman

Liebesabgründe in Zeiten der Pandemie

Eine raffinierte Pandemiereflexion – oder was hat man da gleich nochmal gelesen? Norbert Gstrein, einer der „virtuosesten deutschsprachigen Erzähler der Gegenwart“ (Jury Thomas-Mann-Preis 2021), liebt es uneindeutig. Mit düsterem Witz und kunstvoller Abgründigkeit erzählt „Vier Tage, drei Nächte“ von einer Geschwisterliebe in Zeiten des Lockdowns. Mit einem überraschenden Turn Richtung Identitätspolitiken.

Da ist sie also: Die Figur des polternden, rüpelhaften Tiroler Hoteliers, die trotzig auf die Covid-Maßnahmen pfeift, weil sie lieber aufs eigene Börserl schaut, ist nun endlich Roman-„Held“ geworden, als Vater- und – man könnte meinen – als Schlüsselfigur in Gstreins neuem Roman: Der Besitzer eines gehobenen Tiroler Betriebs will um jeden Preis seine illegale „Vier Tage, drei Nächte“-Saisonstartparty in den verschneiten Alpen feiern. In einer kalten Dezembernacht steht er vor der Tür der Berliner Wohnung seiner Kinder Elias und Ines, um mit viel Geld seinen Sohn zu locken, den Kellnerjob zu übernehmen.

Die Party wird schließlich auffliegen und bei der anschließenden Südafrikareise wird der namenlose Patriarch auch gleich noch die Virusmutation einschleppen: Was als süffiger pandemischer Plot gelten kann, ist natürlich nur ein Nebenstrang im spannungsgeladenen Setting. Gstrein, selbst als Tiroler Hoteliersohn aufgewachsen, seit Langem in Hamburg lebend, ist für den auf eindeutige Botschaften getrimmten Roman nicht zu haben.

Norbert Gstrein
Oliver Wolf
Norbert Gstreins Bücher wurden vielfach ausgezeichnet, zuletzt erschienen „Als ich jung war“ (2019) und „Der zweite Jakob“ (2021).

Im Gstreinschen Erzähllabyrinth mit den faszinierend langen, aber flüssig zu lesenden Satzkaskaden bleibt stets vieles ungeklärt – bei aller spürbaren Nähe zur aktuellen gesellschaftlichen Befindlichkeit. Und viele falsche Fährten, vom Autor hier offenkundig mit teils diebischer Freude gelegt, lassen im Lauf der Geschichte auch den Icherzähler Elias als Vertrauensinstanz erodieren und so manch verfestigtes Bild bröckeln.

Geschwisterliebe von Kindheit an

Die Sache ist also kompliziert – und über weite Strecken höchst fesselnd: Im Zentrum steht besagtes Geschwisterpaar beziehungsweise eigentlich Halbgeschwisterpaar, dessen erotisch aufgeladene, vertrackte Beziehung schon in der Kindheit ihren Ausgang nimmt. Erst spät erfährt Elias, dass das Mädchen, das jeden Winter mit seiner Mutter auf Skiurlaub in die Alpen kommt, seine Halbschwester ist.

Da ist es längst um ihn geschehen – und die Bande zwischen den beiden beinahe Gleichaltrigen lassen sich nicht mehr lösen. Mit Unterbrechungen leben die beiden zusammen zunächst in Innsbruck, später in den USA und dann als Mittdreißiger in Berlin im Lockdown 2020, wo die Handlung über weite Strecken angesiedelt ist – in einer seltsam zärtlichen, bisweilen zerstörerischen Beziehung.

Ungleiches Paar

Ines ist eine toughe, aufstrebende Literaturwissenschafterin, die sich (Achtung böse Pointe!) in ihrer Forschung ausgerechnet mit romantischer Liebe beschäftigt. Elias ist beruflich wie emotional eher gestrandet: Nach abgebrochenem Wirtschaftsstudium und abgebrochener Hubschrauberpilotenausbildung hat er als Flugbegleiter gearbeitet, vom Vater spöttisch kommentiert als „Saftschubse“.

Buchcover „Vier Tage, drei Nächte“
Hanser Literaturverlage
Norbert Gstrein: „Vier Tage, drei Nächte“. Hanser, 352 Seiten, 26,80 Euro

Als Elias pandemiebedingt den Job verliert, zieht er zur Schwester, wo die beiden ihr Spiel samt teilweise geteiltem Bett wieder aufnehmen. Vor der Tür bezieht unterdessen Ines kürzlich abservierter Lover den Beobachtungsposten und wird zusehends unberechenbarer.

Bruder als „Beziehungsnachlassverwalter“

Besonders in diesem Teil, der gewieft mit Mitteln des Suspense spielt, wird das Buch zum echten Pageturner: Wie schon zuvor bezieht Ines ihren Bruder in ihre Anziehungs- und Abstoßungsaffärendynamik ein, als wenig zimperlicher „Bad Cop“ lässt er als Abservierer seinem Hass freien Lauf. Die Rolle ist aber nur eine in dieser Konstellation: Elias geht – bisweilen von Ines geduldet – durchaus mit dem einen oder anderen Ex selbst ins Bett.

Warum aber eigentlich der Topos der „verbotenen“ Geschwisterliebe? Als klassisches literarisches Motiv steht dieser unter anderem für die Lieben zum Ähnlichen. Das kammerspielartige Setting kann man als Befund einer (post-)pandemischen Gesellschaft deuten, in der das Eigene immer näher und das Außen zusehends bedrohlich wird.

Sturz in den Abgrund

So oder so: Die Untiefen lauern nicht nur vor der Tür, auch Elias wird in Rückblenden zusehends zum fragwürdigen Charakter. Ines amerikanischer Freund etwa, der als Einziger das Spiel der Geschwister durchschaute, wurde damals – böse Absicht oder doch nur schlechter Zufall? – bei einer Wanderung in den Abgrund gestoßen. Wer „Als ich jung war“, 2019 mit dem Österreichischen Buchpreis ausgezeichnet, gelesen hat, bei dem werden da die Glocken klingeln. Der fragwürdige Sturz ist, neben der Schuldthematik, dem Amerikabezug oder der zweifelhaften Erzählerfigur nur ein Motiv, das „Vier Tage, drei Nächte“ mit den beiden Vorgängerromanen (zuletzt: „Der zweite Jakob“, 2021) verbindet.

Das Geschwisterduo wird schließlich zum Trio erweitert: Elias aktueller Freund Carl zieht bei den beiden ein. Und es dauert weitere zig Seiten, bis man Näheres zu dieser anfangs nebulös gezeichneten Figur erfährt – was, ganz nebenbei erzählt, der Geschichte nochmal einen ganz anderen Dreh gibt. Und das bürgerlich-liberale Geschwisterpaar muss sich letztlich die Frage des eigenen Rassismus stellen.

Auseinanderfallen mit Bonnie Tyler

„Every now and then I fall apart“ – immer wieder falle ich auseinander, dieses vorangestellte Bonnie-Tyler-Liedzitat von „Total Eclipse of the Heart“ passt denkbar gut: Denn nicht nur die Figuren erweisen sich als höchst brüchig, sondern auch die Bilder im Kopf, die beim Lesen entstanden sind. „Vier Tage, drei Nächte“ hallt als dichtes, ausgeklügeltes Spiel mit Identitäten und Motiven jedenfalls lange nach. Und hat obendrein noch einiges an bösem Humor auf Lager.