Ein Jugendlicher geht an einer Reihe an gemahlten Porträts der verschwundenen Studenten vorbei
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Mexiko

Wende im Fall vermisster Studenten

Acht Jahre ist es her, dass in Mexiko 43 Studierende auf mysteriöse Art und Weise verschwunden sind. Der Fall sorgte weltweit für Entsetzen. Bis heute sind die Hintergründe der Tat nicht vollständig aufgeklärt. Es handle sich um ein „Staatsverbrechen“, meinte der Leiter der Wahrheitskommission zuletzt. Mit der Festnahme des Ex-Generalstaatsanwalts Jesus Murillo Karam rückte die Causa nun erneut ins Rampenlicht.

Fast acht Jahre nach dem Verschwinden der 43 Studenten nahmen die Behörden den damals für die Ermittlungen zuständigen Generalstaatsanwalt fest und erließen insgesamt 83 Haftbefehle – auch gegen Soldaten und Polizisten. Ex-Generalstaatsanwalt Murillo Karam wurde am Freitagabend in seinem Haus in der Hauptstadt Mexiko-Stadt wegen „Verschwindenlassens“, Folter und Rechtsbeugung verhaftet, wie die Generalstaatsanwaltschaft mitteilte.

Nur Stunden nach der Festnahme gab die Staatsanwaltschaft außerdem Haftbefehle gegen 20 Militärs, darunter Kommandeure, 44 Polizisten, 14 Mitglieder des Drogenkartells Guerreros Unidos und fünf Verwaltungs- und Justizbeamte des Bundesstaates Guerrero. Die darin erhobenen Vorwürfe lauteten organisierte Kriminalität, „Verschwindenlassen“ von Menschen, Folter, Mord und Vergehen gegen die Justizverwaltung.

Studierende verschwanden auf dem Weg zu Demo

Die 43 Studierenden eines linksgerichteten Lehrerseminars im südmexikanischen Ayotzinapa waren in der Nacht auf den 27. September 2014 nahe der Stadt Iguala im Bundesstaat Guerrero verschwunden, als sie auf dem Weg zu einer Demonstration in Mexiko-Stadt waren.

Bis heute sind nur die sterblichen Überreste von drei Opfern identifiziert worden. Die sterblichen Überreste waren in den vergangenen Jahren von Gerichtsmedizinern in Innsbruck untersucht worden. Auch wichtige Augenzeugen sollen im Laufe der Ermittlungen gefoltert und getötet worden sein.

Jesus Murillo Karam, früherer Generalstaatsanwalt Mexikos
APA/AFP/Emmanuel Dunand
Ex-Generalstaatsanwalt Jesus Murillo Karam wurde festgenommen

Der damals zuständige Generalstaatsanwalt Murillo Karam gilt als Architekt der „historischen Wahrheit“, der 2015 unter dem damaligen Präsidenten Enrique Pena Nieto vorgelegten offiziellen Erklärung zu den Hintergründen der Tat. Demzufolge waren die Studierenden von korrupten Polizisten verschleppt und an die Drogenbande Guerreros Unidos ausgeliefert worden. Bandenmitglieder sollen die Studenten für Angehörige eines verfeindeten Kartells gehalten, ermordet und die Leichen verbrannt haben.

Wahrheitskommission legte Bericht vor

Die Familien der Studierenden und unabhängige Fachleute der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte zweifelten die offiziellen Ermittlungsergebnisse aber an. Eine 2019 von Nietos Nachfolger Andres Manuel Lopez Obrador ins Leben gerufene Wahrheitskommission kam in einem am Donnerstag vorgelegten Bericht zu dem Schluss, dass auch Soldaten eine Mitschuld am Verschwinden der Studenten tragen.

„Ihre Taten, Unterlassungen oder Beteiligung ermöglichten das Verschwinden und die Hinrichtung der Studenten sowie die Ermordung von sechs weiteren Menschen“, sagte der Leiter der Wahrheitskommission Ayotzinapa, Alejandro Encinas, bei der Vorstellung des Berichts. Er sprach von einem „Staatsverbrechen“.

NGO: Bericht für Familien „sehr hart“

Der Bericht der Wahrheitskommission nannte zudem drei Hypothesen für die Gewalteskalation: Erstens: Das örtliche Drogenkartell Guerreros Unidos könnte unter den Studenten jemanden mit Verbindungen zu einer rivalisierenden Bande identifiziert haben. Zweitens: Die große Gruppe von jungen Leuten wurde mit Gegnern verwechselt. Drittens: In einem der gekaperten Busse befanden sich versteckte Drogen oder Geld.

Die Eltern der jungen Männer wollten den Bericht gründlich analysieren, bevor sie sich äußern, hieß es. Der Inhalt sei für sie sehr hart gewesen, teilte die Menschenrechtsorganisation Centro Prodh mit. Bisher waren die Studenten unter der Annahme gesucht worden, dass sie noch leben könnten.

Präsident: Verantwortliche zur Rechenschaft ziehen

Präsident Lopez Obrador forderte daraufhin, die Wahrheit müsse bekannt und die Verantwortlichen müssten „bestraft“ werden. Der Fall soll nicht zu den Akten gelegt werden. Die Generalstaatsanwaltschaft werde weiter daran arbeiten, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. „Wir haben von Anfang an gesagt, dass wir die Wahrheit sagen, wie schmerzhaft sie auch sein mag“, sagte Lopez Obrador.

Der Staatschef hatte bereits im März gesagt, es gebe Ermittlungen gegen Marinesoldaten. Diese sollen bei Ermittlungen Beweise manipuliert haben, insbesondere auf einer Müllhalde, auf der menschliche Überreste gefunden worden waren.

Soldat in Lehrseminar eingeschleust

Wahrheitskommissionschef Encinas sagte am Donnerstag außerdem, die Streitkräfte hätten einen Soldaten in das Lehrerseminar von Ayotzinapa eingeschleust. Der Soldat habe über die Aktivitäten der Studenten berichtet. Sein Aufenthaltsort ist seit dem Verschwinden der Studenten ebenfalls unbekannt.

Ex-Generalstaatsanwalt Murillo Karam galt einst als Schwergewicht der Partei PRI, die Mexiko bis ins Jahr 2000 mehr als 70 Jahre lang ununterbrochen regiert hatte. Die Partei bezeichnete seine Festnahme am Freitag als politisch motiviert.