Zerstörte Schule in Kramatorsk
Reuters
Ukraine

Ein halbes Jahr Krieg – und kein Ende in Sicht

Vor einem halben Jahr hat Russland die Ukraine überfallen und damit einen der größten militärischen Konflikte in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs entfesselt. Die Folgen: Tod und Zerstörung, eine seit Jahrzehnten beispiellose Fluchtbewegung, aber auch eine neu geordnete geopolitische Architektur und weltweite Konsequenzen für die Versorgung mit Energie, Rohstoffen und Nahrung. Ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht – Verhandlungen scheinen noch lange unwahrscheinlich.

Seit dem 24. Februar tobt Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, der Schockwellen auf der ganzen Welt ausgelöst hat. Nach wochenlangen Drohgebärden, etwa Truppenaufmärschen an der ukrainischen Grenze, hatte der russische Präsident Wladimir Putin einen „militärischen Spezialeinsatz“ zur „Entnazifizierung“ und „Demilitarisierung“ der Ukraine angekündigt. In den frühen Morgenstunden begann mit Luft- und Raketenangriffen die Invasion. Kiew reagierte mit einer Generalmobilmachung und verhängte das Kriegsrecht.

Angesichts der Annexion der Krim im Jahr 2014 und den seither andauernden Kämpfen in der Ostukraine war es ein Krieg mit langem Anlauf. Und doch reagierte die Weltgemeinschaft schockiert, als Putin die Lage tatsächlich eskalieren ließ. In einer ersten Reaktion gab es breite Militärhilfen für die Ukraine. Zudem zündeten die EU und die USA über die kommenden Wochen ein Sanktionsfeuerwerk, das heute in Russland, aber auch im Westen spürbar ist.

Russischer Präsident Wladimir Putin
Reuters/Sputnik
Putin bei einem Treffen des Nationalen Sicherheitsrates, kurz nach Kriegsbeginn

Der Kreml ließ und lässt sich allein von diesem aber nicht abschrecken, suchte neue Allianzen und trieb seine Invasion voran. Doch russische Hoffnungen auf ein rasches Überrollen der Ukraine, eine Kapitulation der Regierung oder ein Überlaufen größerer Teile der Bevölkerung wurden rasch zerschlagen. Der Plan, die Hauptstadt Kiew in einer Blitzoffensive einzunehmen, scheiterte.

Russische Truppen gelangten zwar bis in die Vororte, nicht aber ins Stadtzentrum mit dem Sitz der ukrainischen Regierung. Die von Präsident Wolodomyr Selenskyj angeführte Staatsspitze befindet sich bis heute im Land – und liefert mit ihrer rastlosen Diplomatie- und Kommunikationsstrategie auch ein Lehrstück darüber ab, wie sich ein traditioneller Luft- und Bodenkrieg in einer modernen Medien- und Informationsgesellschaft manifestiert.

Ukrainischer Präsident Wolodymyr Selenski
Reuters/Ukrainian Presidential Press Service
Selfie aus dem Kriegsgebiet: Der Ukraine-Krieg wird auch medial gefochten

Butscha als Schlüsselmoment

Nach dem gescheiterten Angriff auf Kiew zogen sich die russischen Truppen Anfang April aus dem Norden der Ukraine zurück. In diesen Tagen sorgte der Fund von Dutzenden gefesselten Leichen in Butscha international für Entsetzen. Die mutmaßlichen russischen Massaker an der Zivilbevölkerung wurden zur Chiffre für die Brutalität und Regellosigkeit des Krieges in der Ukraine. Dabei sollte Butscha nicht das letzte Beispiel bleiben – Tausende Zivilpersonen starben durch den Beschuss von Wohnhäusern, Einkaufszentren, Theatern oder Bahnhöfen.

Wie viele Opfer der Krieg bisher gefordert hat, ist weitgehend unklar. Die Zahlen schwanken stark, von hohen Dunkelziffern ist auszugehen.

Seit dem Vorstoß im Frühjahr konnte sich die russische Armee vor allem im Süden und Osten des Landes festsetzen – allen voran in den abtrünnigen Regionen Luhansk und Donezk, wo prorussische Separatisten seit Jahren Strukturen besitzen, zudem in Teilen der Gebiete Cherson, Charkiw und Saporischschja. Immer wieder droht Russland in diesen Gebieten damit, die Besetzung durch Referenden über einen „Beitritt“ zu Russland besiegeln zu wollen.

Von symbolischer und strategischer Bedeutung sind auch die Besatzung der 300.000-Einwohner-Stadt Cherson und die Einnahme der Hafenstadt Mariupol, wo sich wochenlang Kämpfer des Asow-Regimes in dem Stahlwerk Asowstal verschanzt hatten.

Asow-Stahlwerk in Mariupol
Reuters/Azov Regiment
Das zerbombte Asow-Stahlwerk war einst das größte Europas

Derzeit liegt große internationale Aufmerksamkeit auf dem von Russland besetzten Atomkraftwerk Saporischschja. Letzteres wurde in den vergangenen Wochen wiederholt beschossen, was international Ängste vor einem Atomunfall weckt. Kiew und Moskau weisen sich dabei gegenseitig die Schuld zu, eine rasche internationale Inspektion scheint sich trotz drängender Forderungen derzeit nicht durchsetzen zu lassen.

20 Prozent unter russischer Kontrolle

Inklusive der Krim befinden sich laut Selenskyj rund 20 Prozent des ukrainischen Staatsgebiets unter russischer Kontrolle. Allerdings hat sich der Frontverlauf seit Wochen nur minimal verändert. Die russischen Truppen scheinen mit Ressourcen-, Personal- und Ausrüstungsproblemen zu kämpfen und zu größeren Offensiven nicht in der Lage zu sein.

Russischer Panzer
Reuters/Alexander Ermochenko
Russland werden zunehmend Ausrüstungsprobleme attestiert

Russland beteuert zwar, dass seine „Spezialoperation“ nach Plan laufe und man mit der Kriegsführung noch nicht einmal begonnen habe, doch internationale Beobachterinnen und Beobachter sind davon nicht überzeugt. Befürchtet wird, dass Putin die Invasion mit einer Generalmobilmachung in letzter Konsequenz zu einem „vollständigen“ Krieg machen könnte. Ohnehin gilt Russland als zunehmend unberechenbar.

Grafik zur Lage in der Ukraine
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: ISW/liveuamap

Die Ukraine konterte zuletzt mit Gegenangriffen in der Südostukraine, doch auch hier zeichnet sich keine große Bewegung, eher ein gegenseitiges Aufreiben ab. Nicht nur militärisch wird das Land noch lange auf Hilfe angewiesen sein. Zahlreiche Orte liegen nach russischem Beschuss nur noch in Trümmern. Die ukrainische Wirtschaft wird nach Schätzungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank 2022 um 45 Prozent einbrechen, der Wiederaufbau Hunderte Milliarden kosten.

Keine Bereitschaft für Verhandlungen

Für Friedensverhandlungen ist derzeit keine Seite bereit. Die Ukrainer kämpfen um ihre Unabhängigkeit als Nation, Putin will den „historischen Irrtum“ einer souveränen Ukraine beenden. Nur wenige Fachleute glauben, dass Selenskyj Verhandlungen zustimmen würde, bei denen die Ukraine nicht alle verlorenen Gebiete zurückerhält – inklusive der Krim. Dass Putin darauf eingeht, scheint kaum realistisch.

Ukrainische Flüchtlinge
APA/AFP/Louisa Gouliamaki

Leidtragend ist die ukrainische Bevölkerung. Mit dem 24. Februar hat sich die größte Fluchtbewegung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg entsponnen. Ein Drittel der 41 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner der Ukraine haben Häuser und Wohnungen verlassen, um sich vor den Kämpfen in Sicherheit zu bringen, mittlerweile sind viele wieder zurückgekehrt. Mehr als 6,6 Millionen Geflüchtete sind gegenwärtig nach UNO-Erkenntnissen über Europa verteilt, 3,8 Millionen haben sich für Schutz registriert. Allein Polen beherbergt rund 1,3 Millionen Menschen aus der Ukraine.

Internationale Folgen

Die internationalen Auswirkungen des Krieges sind enorm. Die geopolitische Architektur hat sich einerseits verändert, andererseits alte Kontinuitäten und Antagonismen wieder an die Oberfläche gebracht. Die traditionelle Bündnisarchitektur feierte eine Renaissance, jahrzehntealte Prinzipien wie die NATO-Nichtmitgliedschaft von Schweden und Finnland wurden begraben und der Ukraine ein EU-Beitritt in Aussicht gestellt. Befürchtete russische Aggressionen gegen etwa das Baltikum sind bisher nicht eingetreten, doch das Misstrauen ist groß.

Menschen vor zerstörten Häusern in Kramatorsk
Reuters/Nacho Doce
Viele Menschen in der Ukraine stehen vor dem Nichts, Hilfsorganisationen warnen vor dem Winter

Weit entfernt vom direkten Kriegsgeschehen wird der Krieg ebenfalls spürbar. Die jahrelang missachtete Abhängigkeit von russischem Öl und Gas ist mit voller Wucht zutage getreten – nicht zuletzt, weil Russland die Gasversorgung immer wieder direkt als Druckmittel nutzt. Mit einem Schlag stehen Rüstung, Energie- und Ernährungssicherheit oben auf der Agenda.

Unabhängigkeitsfeiern untersagt

In der Ukraine markiert der Mittwoch nicht nur sechs Monate Kriegsbeginn, das Land feiert auch seinen Unabhängigkeitstag von der Sowjetunion. Selenskyj hatte am Wochenende gewarnt, dass Russland in dieser Woche „etwas besonders Widerwärtiges und Gewalttätiges unternehmen könnte“. In der Stadt Kiew wurden alle öffentlichen Zusammenkünfte untersagt, in der zweitgrößten Stadt Charkiw im Nordosten wurde eine Ausgangssperre verhängt. Auch Kiew ist laut Selenskyj weiter in Gefahr. An der Ausgangslage habe sich seit dem 24. Februar „nichts geändert“.