Christine Lagarde
AP/Michael Probst
Europas Wirtschaft

Das fehlende EZB-Sicherheitsnetz

Die EZB steht nach rund zweieinhalb Jahren Pandemie sowie sechs Monaten Ukraine-Krieg und dessen wirtschaftlichen Folgen vor einem Dilemma: Die hohe Inflation zwingt zu einer weiteren Erhöhung des Leitzinses. Zugleich droht Europa in eine Rezession abzurutschen. Vor einer wichtigen Tagung der führenden Notenbankerinnen und -banker mehren sich die Warnsignale: Der Euro verliert an Wert – und bei den Staatsanleihen macht sich das fehlende Sicherheitsnetz der EZB immer stärker bemerkbar.

Die Nervosität der Anlegerinnen und Anleger nimmt vor Beginn der jährlichen Konferenz der Topnotenbanker am Donnerstag im amerikanischen Jackson Hole zu: Beim Thema Energiekrise zeichnet sich keine Entspannung ab, zudem bleibt der Euro – teils schon weniger wert als der Dollar – unter Druck. Auch wenn die Probleme in den USA und Großbritannien ähnlich gelagert sind, ist die Euro-Zone mit der teils enormen wirtschaftlichen Kluft zwischen den einzelnen Staaten besonders von der aktuellen Situation betroffen.

EZB-Chefin Christine Lagarde steht vor einer beinahe unmöglichen Aufgabe: die Inflation zu drücken und gleichzeitig die ohnehin sehr schlechte Konjunktur nicht weiter abzuwürgen. Oder wie es der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, am Mittwoch ausdrückte: „Die EZB ist gefangen zwischen zwei Risiken – die Kontrolle über die Inflationserwartungen zu verlieren und einer noch stärkeren Abschwächung der Wirtschaft.“

Auch deutsche Anleihen schwanken vermehrt

Investoren verkaufen derzeit Staatsanleihen von Euro-Zone-Ländern. Denn sie gehen davon aus, dass trotz der trüben Konjunkturlage die EZB Anfang September wie erwartet den Leitzins um weitere 0,5 Prozent anheben wird. Bei italienischen Anleihen mit zehnjähriger Laufzeit stieg der Zinssatz auf 3,65 Prozent und damit den höchsten Wert seit zwei Monaten, als Investoren wegen Italien nervös wurden.

Doch auch die als sichere Bank geltenden deutschen Staatsanleihen verzeichneten zuletzt die stärksten wiederholten Schwankungen seit 2010 – wenn auch in einem ungleich niedrigeren Bereich. Dazwischen gab es einen Ausschlag dieses Ausmaßes aber laut „Financial Times“ nur einen Tag lang im Vorjahr.

Keine Garantie für Notfall mehr

Hintergrund ist die Verunsicherung der Anleger aufgrund des Rückzugs der EZB, die ihr Staatsanleihen-Aufkaufprogramm, mit dem ein Wirtschaftseinbruch infolge der Pandemie verhindert wurde, schrittweise einstellt. Damit geht viel Liquidität auf dem europäischen Anleihemarkt verloren. Und die Faustregel lautet: Je weniger Geld auf dem Anleihemarkt, desto stärker schwanken die Preise bzw. desto höher die Zinsaufschläge.

Vor allem aber haben Investoren nun keinen garantierten Abnehmer mehr, wenn sie Staatsanleihen loswerden wollen. Mit einem Wort: Das Fehlen des EZB-Rettungsschirms macht Anleger nervös – besonders angesichts der aktuell unsicheren Wirtschaftslage. Alle würden eine negative Entwicklung erwarten, daher traue sich niemand dagegenzuwetten, zitierte die „Financial Times“ zuletzt den Zinsexperten der Bank ING, Antoine Bouvet. Wegen der hohen Inflation sind Anleihen nicht mehr gewinnbringend, weshalb private und institutionelle Anlegerinnen und Anleger diese vermehrt abstoßen und ihr Geld anderweitig investieren.

Verkauf hat noch nicht begonnen

Auch die Tatsache, dass die EZB eine mehrstufige Strategie entworfen hat, kann Anleger derzeit nicht beruhigen. So leitet die EZB einen Großteil des Geldes, das durch den Stopp des Kaufs weiterer Anleihen frei wird, in den Ankauf von Anleihen wirtschaftlich schwacher Euro-Staaten um. Damit wurde insbesondere Italien zuletzt gestützt. Doch unklar ist, was passiert, wenn die EZB beginnt, in ihren Bilanzen befindliche Anleihen zu verkaufen. Das könnte zu weiteren Turbulenzen führen.

Die Rezessionsangst in der Euro-Zone steigt jedenfalls, wie eine aktuelle Umfrage von Reuters unter europäischen Managern zeigt. Es gibt freilich auch positive Signale: Die Preise stiegen so wenig wie seit einem Jahr nicht mehr, und der Rückgang der Wirtschaftsaktivität beschränkt sich auf Deutschland und Frankreich, während die Produktion in den anderen Euro-Zone-Ländern – wenn auch nur minimal – stieg.

Geduld und Nerven gefragt

Alle Notenbanker sind sich grundsätzlich einig, dass die Inflation möglichst rasch gedrückt werden muss. Mit 8,9 Prozent im Juli liegt die Inflation weit vom Zielwert von rund zwei Prozent entfernt. Nach der Zinswende im Juli, mit dem Anheben von null auf 0,5 Prozent, wird am 8. September der nächste Schritt – wieder 0,5 Prozent – erwartet.

Von den Aussagen nach den Beratungen in Jackson Hole erwarten sich alle Hinweise über den weiteren Kurs der US-Notenbank Fed und der EZB. Unklar bleibt aber wohl auch dann, ob es Lagarde gelingen wird, die Euro-Zone zwischen Skylla und Charybdis – also Inflation und Rezession – halbwegs unbeschadet durchzulenken. Von allen – Notenbanken, Investoren, Wirtschaft, Politik und Bevölkerung – wird in nächster Zeit vor allem eines verlangt werden: Geduld und Nerven.