Selenskyj auf einem Bildschirm vor dem UN-Sicherheitsrat
APA/AFP/Timothy A. Clary
Vor UNO-Sicherheitsrat

Selenskyj geißelt „nukleare Erpressung“

Am ukrainischen Unabhängigkeitstag und sechs Monate nach dem völkerrechtswidrigen Einmarsch Russlands hat Präsident Wolodymyr Selenskyj vor dem UNO-Sicherheitsrat gesprochen. Er forderte die Übergabe des umkämpften AKW Saporischschja an die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) und betonte, „wie sehr die Welt von unserer Unabhängigkeit abhängig ist“. Über 50 Länder riefen Russland auf, den Angriffskrieg zu beenden.

Auch am Unabhängigkeitstag schwiegen die Waffen nicht, den ganzen Tag über herrschte in der Ukraine immer wieder Luftalarm. Laut ukrainischen Angaben wurden mehrere Regionen mit russischen Raketen beschossen, das Gebiet Chmelnyzkyj im Westen des Landes etwa, auch das Gebiet Schytomyr im Norden. Im Gebiet Dnipropetrowsk seien durch Beschuss auf einen Bahnhof 14 Personen getötet und rund 50 weitere verletzt worden. Aus Furcht vor russischen Raketengriffen hatten die Behörden in Kiew alle Großveranstaltungen rund um den Unabhängigkeitstag verboten.

Vor diesem Hintergrund sprach Selenskyj am Mittwoch per Videoschaltung vor dem UNO-Sicherheitsrat. „Heute feiert unser Land den Unabhängigkeitstag und jetzt kann jeder sehen, wie sehr die Welt von unserer Unabhängigkeit abhängig ist“, so Selenskyj am Mittwoch. Wenn Russland jetzt nicht aufgehalten werde, „werden russische Mörder wahrscheinlich in anderen Ländern landen – in Europa, Asien, Afrika, Lateinamerika“, sagte Selenskyj weiter.

Selenskyj spricht vor dem UNO-Sicherheitsrat

Bei seiner Rede per Videoschaltung vor dem UNO-Sicherheitsrat macht der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, Russland für die anhaltende weltweite Nahrungsmittel- und Energiekrise verantwortlich. Wenn Russland jetzt nicht aufgehalten werde, „werden russische Mörder wahrscheinlich in anderen Ländern landen – in Europa, Asien, Afrika, Lateinamerika“, sagt Selenskyj weiter.

Keine Gebietsabtretungen

„Russland muss für das Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine zur Rechenschaft gezogen werden.“ Die Ukraine sei zu keinerlei territorialen Zugeständnissen an Russland bereit. Für seine Regierung bedeute die Ukraine das gesamte Land, einschließlich der umkämpften Gebiete – „alle 25 Regionen, ohne jegliches Zugeständnis oder jeden Kompromiss“.

Zuvor hatte Russland noch versucht, die Rede Selenskyjs zu verhindern. Moskau bekam im mächtigsten UNO-Gremium in New York aber nicht den nötigen Rückhalt, um die Videobotschaft zu verhindern – 13 der 15 Mitglieder waren für einen Auftritt des Präsidenten. Der russische UNO-Botschafter Wassili Nebensja hatte seinen Einspruch damit begründet, dass Selenskyj nicht per Video zugeschaltet werden dürfe, sondern in New York persönlich anwesend sein müsse.

Sorgen um Kämpfe rund um AKW

Ein bestimmendes Thema der Rede waren die Kämpfe um das AKW nahe Saporischschja. Selenskyj forderte eine Übergabe des umkämpften Atomkraftwerks an die in Wien ansässige IAEA. Eine Expertenmission solle „so schnell wie möglich“ und dauerhaft die Kontrolle über die von Russen besetzte Anlage übernehmen. Russland müsse seine „nukleare Erpressung“ bedingungslos einstellen und sich vollständig von dem Kernkraftwerk in der Ostukraine zurückziehen.

Kernkraftwerk Saporischschja
Reuters/Alexander Ermochenko
Das AKW Saporischschja steht unter russischer Kontrolle

Derzeit gibt es tatsächlich Gespräche zwischen der IAEA und Russland über Saporischschja. Dabei geht es zunächst um eine Inspektion. IAEA-Chef Rafael Grossi und Rosatom-Chef Alexej Likatschew hätten sich am Mittwoch in Istanbul „detailliert über alle Fragen der geplanten IAEA-Mission“ ausgetauscht, hieß es in einer Mitteilung von Rosatom.

Beschuss und Kämpfe rund um das größte Atomkraftwerk Europas hatten zuletzt Befürchtungen einer atomaren Katastrophe am größten Atomkraftwerk Europas geweckt. Kiew und Moskau machen sich gegenseitig für die Angriffe verantwortlich.

„Welt hat schwere Verletzungen erlebt“

Die Europäische Union (EU) betonte am Mittwoch, dass ein Kernkraftwerk nicht als Militärbasis missbraucht werden dürfe. „In den vergangenen Monaten haben wir ein aufkommendes Risiko einer nuklearen Katastrophe in Europa gesehen. Es ist bedauerlich, dass wir sogar sagen müssen, dass ein Kernkraftwerk niemals als Militärstützpunkt genutzt werden sollte“, sagte der UNO-Botschafter der EU, Silvio Gonzato, in New York.

Kiews Bürgermeister Klitschko über die letzten sechs Monate

Der Bürgermeister von der ukrainischen Hauptstadt Kiew, Witali Klitschko, spricht über die letzten sechs Monate im Land. Er berichtet, wie sich das Leben in der Stadt verändert hat.

Auch UNO-Generalsekretär Antonio Guterres zeigte sich besorgt über Saporischschja. Er mahnte bei der Sicherheitsratssitzung erneut eine internationale Expertenmission an, für die es trotz offizieller Unterstützung der Kriegsparteien noch kein grünes Licht gibt. „Die Warnleuchten blinken“, so Guterres. „Der heutige Tag markiert einen traurigen und tragischen Meilenstein“, sagte Guterres. Tausende Zivilistinnen und Zivilisten seien getötet oder verwundet worden, darunter auch Hunderte Kinder. „Die Welt hat schwere Verletzungen der internationalen Menschenrechtsnormen und des humanitären Völkerrechts erlebt.“

Dutzende Länder mit Aufruf

Mehr als 50 Länder – darunter die USA, alle EU-Staaten und Großbritannien – verurteilten am Mittwoch Russlands Angriffskrieg. „Wir fordern die Russische Föderation auf, ihre völlige Missachtung ihrer völkerrechtlichen Verpflichtungen, einschließlich der Charta der Vereinten Nationen, des humanitären Völkerrechts und der internationalen Menschenrechtsgesetze, zu beenden“, sagte der ukrainische UNO-Botschafter Serhij Kislizia im Namen der beteiligten Staaten.

Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) gratulierte der Ukraine in einem Twitter-Video auf Englisch zum Unabhängigkeitstag. Der Bundeskanzler verurteilte dabei die „brutale russische Aggression“, die zur schlimmsten europäischen Sicherheitskrise seit dem Zweiten Weltkrieg geführt habe. Kriegsverbrecher müssten zur Verantwortung gezogen werden, hier dürfe es keine Straflosigkeit geben, so Nehammer. Das österreichische Außenministerium versicherte „unseren Freunden in Kiew“ anlässlich des Unabhängigkeitstages, weiterhin an der Seite der Ukraine zu stehen.

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg zeigte sich überzeugt, dass Russland den Krieg gegen die Ukraine nicht gewinnen wird. „Die Ukraine muss sich durchsetzen, und die Ukraine wird sich durchsetzen.“ EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen versprach der Ukraine Unterstützung beim Wiederaufbau.

Neue Militärhilfen für Ukraine

Auch die USA bekräftigten ihre Unterstützung für die Ukraine: US-Präsident Joe Biden kündigte weitere Militärhilfen für die Ukraine in Höhe von knapp drei Milliarden Dollar an. Das Geld werde dem Land dabei helfen, Luftverteidigungs-, Drohnenabwehr- und Radarsysteme sowie Artillerie anzuschaffen, „um sich auf lange Sicht verteidigen zu können“, erklärte Biden. Die USA haben insgesamt gewaltige Summen zur Unterstützung der Ukraine bereitgestellt. Im Mai hatte der US-Kongress dafür Mittel im Umfang von fast 40 Milliarden Dollar (40 Milliarden Euro) gebilligt. Die amerikanische UNO-Botschafterin Linda Thomas-Greenfield sagte vor der UNO: „Die internationale Gemeinschaft wird Russlands Versuch, die Grenzen der Ukraine gewaltsam zu verändern, niemals anerkennen.“

Zusagen für neue Militärhilfe kamen zuletzt auch aus Deutschland und Großbritannien: Bereits am Dienstag hatte Deutschlands Kanzler Olaf Scholz zusätzliche Waffenlieferungen im Wert von mehr als 500 Millionen Euro angekündigt. Der britische Premierminister Boris Johnson kündigte weitere Hilfen im Wert von umgerechnet etwa 64 Millionen Euro an, darunter 2.000 Drohnen.

Johnson war am Mittwoch überraschend in Kiew aufgetaucht. „Ihr verteidigt euer Recht, in Frieden, in Freiheit zu leben“, sagte Johnson dabei an die Ukrainer und fügte hinzu: „Deshalb wird die Ukraine gewinnen.“

Putin schwieg

Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu verteidigte das Vorgehen in der Ukraine. Die Ukraine habe den Friedensplan für die Gebiete im Donbas abgelehnt, sagte Schoigu am Mittwoch der Agentur Interfax zufolge vor Verteidigungsministern der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO). „Von Kiew, das sich geweigert hat, die Vereinbarungen von Minsk zu erfüllen, ging eine reale Gefahr für die Menschen im Donbas aus, und in der Perspektive für die Russische Föderation“, sagte er.

Russlands Präsident Wladimir Putin schwieg am Mittwoch zum Krieg, ordnete aber Geldzahlungen für Menschen in den besetzten ukrainischen Gebieten an. In den Gebieten Donezk, Luhansk und Charkiw sowie in Saporischschja und Cherson im Süden sollen Eltern von Kindern im Alter zwischen sechs und 18 Jahren einmalig 10.000 Rubel (knapp 170 Euro) erhalten, wie aus einer Mitteilung hervorging.

Wehrschütz (ORF) über den Kampfgeist der Ukrainer

ORF-Korrespondent Christian Wehrschütz spricht unter anderem darüber, wie stark der Kampfgeist der Ukrainer noch zu spüren ist. Außerdem spricht er darüber, ob sich die ukrainischen Landsleute immer noch unterstützt fühlen.

Verheerende Bilanz

Die bisherige Bilanz ist jedenfalls für beide Seiten erschütternd. Nach ukrainischen Angaben wurden in dem Krieg bisher fast 9.000 ukrainische Soldaten getötet, außerdem kamen Tausende Zivilistinnen und Zivilisten bei Angriffen ums Leben. Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft prüft fast 26.000 Fälle von Kriegsverbrechen seit Beginn der Invasion. Nach Schätzungen des US-Verteidigungsministeriums wurden auf russischer Seite 70.000 bis 80.000 Menschen getötet oder verletzt. Offizielle Angaben zu Opferzahlen gibt es von russischer Seite nicht.

Bisher flohen rund 6,4 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind bei 473 Angriffen auf Gesundheitseinrichtungen mindestens 98 Menschen gestorben.