Flüchtlinge beim Flüchtlingscamp Ter Apel
Reuters/Piroschka Van De Wouw
„Wie Moria“

Überfülltes Asylzentrum erregt Niederlande

„Menschenunwürdig“, „unhaltbar“, „Lebensbedingungen wie in Moria“: Die prekäre Lage im nationalen Asylzentrum der Niederlande sorgt für heftige Kritik. Der Grund? Die Einrichtung in Ter Apel ist seit Monaten so überfüllt, dass Hunderte Menschen im Freien schlafen müssen. Erst am Mittwoch starb dort ein drei Monate altes Baby. Nun kursieren Pläne der Regierung, die die Krise entschärfen sollen.

Schlafplätze? Gibt es nicht mehr. Toiletten? Kaum verfügbar. Menstruationsartikel? Fehlanzeige. Die hygienischen Zustände im Umfeld des Zentrums beim Dorf Ter Apel an der Grenze zu Deutschland seien seit Wochen unhaltbar, kritisierten Hilfsorganisationen. „Wir machen uns ernste Sorgen“, sagte die Rot-Kreuz-Sprecherin Nicole van Batenburg der Nachrichtenplattform NU.nl. Die unzureichenden hygienischen Einrichtungen könnten „Infektionskrankheiten auslösen, uns wurden bereits mehrfach gesundheitliche Probleme gemeldet“.

Die internationale Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) schickte am Donnerstag ein Team zur Versorgung der Asylwerbenden nach Ter Apel. Es ist das erste Mal überhaupt, dass die Organisation in den Niederlanden aktiv ist.

„Wir können nicht zurücktreten und nichts tun angesichts dieser zunehmend unmenschlichen und inakzeptablen Situation vor unserer Haustür“, so die niederländische MSF-Chefin Judith Sargentini. Das Team sei außerhalb des Aufnahmezentrums präsent, um Menschen mit Krankheiten und Verletzungen zu behandeln. „Eigentlich ein Job der Regierung“, kritisierte Patricia Otuka-Karner von Ärzte ohne Grenzen Österreich bei Twitter.

Plan sieht mehr Wohnungen und Geld vor

In Den Haag wurde angesichts der eskalierenden Lage zuletzt Hilfe versprochen. Tatsächlich dürfte die Regierung unter dem rechtsliberalen Ministerpräsidenten Mark Rutte schon bald ein Maßnahmenpaket gegen die Krise präsentieren. Erste Eckpunkte wurden nun bekannt: Niederländische Medien berichteten, dass die Kommunen in diesem Herbst insgesamt 20.000 Wohnungen für Flüchtlinge mit Aufenthaltsstatus zur Verfügung stellen werden.

Ferner wolle die Regierung in den kommenden Jahren 730 Mio. Euro für die Bekämpfung der Aufnahmekrise bereitstellen. Eine Sprecherin des Justizministeriums wollte das nicht bestätigen. Die Verhandlungen würden noch andauern. Das Kabinett sei „mit nichts anderem beschäftigt“, sagte Rutte laut Nachrichtenagentur ANP zuvor am Donnerstagabend.

Flüchtlinge im Flüchtlingscamp Ter Apel
Reuters/Piroschka Van De Wouw
Hunderte schutzsuchende Menschen – darunter Schwangere und Kinder – müssen seit Wochen und Monaten im Freien schlafen

Baby verstorben: EU fordert Ermittlungen

Wie prekär die Situation tatsächlich ist, machte diese Woche der Tod eines drei Monate alten Babys deutlich. Die Europäische Kommission rief die Niederlande angesichts dessen dazu auf, den Fall gründlich zu untersuchen, wie ANP berichtete. Das Kind war am Mittwoch in einer als Notunterkunft eingerichteten Sporthalle gestorben.

Zur Ermittlung der Todesursache haben die Justiz- und die Gesundheitsbehörde bereits vor der EU-Aufforderung eine Untersuchung eingeleitet. Ein EU-Sprecher erklärte laut ANP, man sei sich der „herausfordernden Situation im Aufnahmezentrum der Niederlande“ bewusst und bereit, das Land zu unterstützen.

Um Abhilfe zu schaffen, wurden am Donnerstagabend in einem ersten Schritt von der Zentralbehörde für die Aufnahme von Asylsuchenden (COA) rund 150 Flüchtlinge aus der Umgebung von Ter Apel ins 150 Kilometer entfernte Apeldoorn gebracht, wo sie für zunächst vier Tage in Sporthallen untergebracht wurden. Danach sollen sie Unterkünfte in Doetinchem im Süden der Niederlande beziehen.

Flüchtlingswerk: Politik scheitert seit Jahren

Doch wie kam es überhaupt so weit? Das nationale Anmeldezentrum, in dem 2.000 Menschen untergebracht werden können, galt bei Fachleuten lange Zeit als Musterbeispiel. Hier konnten Asylverfahren binnen weniger Tage abgeschlossen werden, weil verschiedene Instanzen – von Polizei, Einwanderungsbehörde und Rechtsanwälten bis hin zum Flüchtlingswerk – an einem Ort gesammelt sind. Nur eben jenes System scheint nun zu bröckeln.

Das liegt aber nicht daran, dass der Zustrom von Flüchtlingen zu groß wäre. Dieser ist mit rund 43.000 Menschen pro Jahr stabil – Ukraine-Flüchtlinge werden ob ihres Sonderstatus ohnehin nicht hinzugezählt. Vielmehr fehlten nach Sparmaßnahmen bei der Immigrationsbehörde und der Schließung von Asylzentren nun Schlafplätze wie Personal, und Wartezeiten nähmen zu, sagte Frank Candel, Vorsitzender des niederländischen Flüchtlingswerkes.

Statt weniger Tage dauern Verfahren in dem zentralen Auffanglager nun Monate. Außerdem bekommen anerkannte Asylwerber oft keine Wohnung zugewiesen und bleiben so länger in den Übergangsheimen. Der Wohnungsmarkt gilt in den Niederlanden ohnehin als angespannt. Es sei keine Flüchtlings-, sondern eine Aufnahmekrise, so Candel. „Hier geht es nicht um höhere Gewalt, sondern um seit Jahren scheiternde Politik.“

Katastrophale Zustände in Asylzentrum

In einem Asylzentrum im niederländischen Ter Apel sind etliche Asylsuchende im Freien untergebracht, da das Camp völlig überfüllt ist. Auch gibt es kaum sanitäre Einrichtungen und mangelnde medizinische Versorgung für die etwa 700 Menschen. Hilfsorganisationen kritisieren die katastrophalen Zustände in der staatlichen Einrichtung aufs Schärfste.

Bewohner protestieren gegen „Unruhestifter“

Der Staatssekretär für Asylfragen, Eric van den Burg, kündigte angesichts der prekären Lage an, andere Kommunen zur Aufnahme von Asylbewerbern zu zwingen. Die Lage in Ter Apel sei „unhaltbar“. Die Kommunen stemmten sich zuletzt vielfach gegen die Aufnahme Geflüchteter.

In Ter Apel protestierten am Donnerstagabend mehrere hundert Menschen – Bewohnerinnen und Bewohner des Dorfes sowie aus anderen Orten im Norden der Niederlande – gegen die „Überforderung“ der Gemeinde durch das Asylzentrum. Sie trugen Spruchbänder mit Texten wie „Wir haben es satt“ und „Echte Flüchtlinge ok. Weg mit Unruhestiftern!“

Demonstration gegen Flüchtlinge im Flüchtlingscamp Ter Apel
AP/Peter Dejong
In Ter Apel protestierten am Donnerstagabend mehrere hundert Menschen

Die niederländische NGO VluchtelingenWerk kritisierte den Umstand: Immerhin seien die Kommunen mehr als bereit gewesen, Zehntausenden Ukrainerinnen und Ukrainern Unterschlupf zu gewähren. Dabei handle es sich auch bei der Mehrzahl jener Menschen, die in Ter Apel ankommen, um Kriegsflüchtlinge: Viele flüchteten nämlich aus Syrien und Afghanistan.

Niederlande wegen Lage in Ter Apel geklagt

Bereits Mitte August hatte VluchtelingenWerk den niederländischen Staat wegen der dramatisch schlechten Unterbringung von Asylsuchenden geklagt. Als Folge staatlicher Sparmaßnahmen müssten seit fast einem Jahr Tausende Flüchtlinge unter „unmenschlichen Umständen“ in Zelten oder Sporthallen leben, hieß es. Für die Hunderten Menschen gebe es viel zu wenige Toiletten, zudem seien diese oft völlig verdreckt, und es fehle an Toilettenpapier, Seife und Menstruationsartikeln, beklagte das Flüchtlingshilfswerk der Niederlande.

Mit einer einstweiligen Verfügung will die Organisation erzwingen, dass die gesetzlichen Mindestanforderungen erfüllt werden. Dazu gehörten Privatsphäre, Gesundheitsversorgung, ein Bett, anständiges Essen, saubere Duschen und WCs sowie Wetterschutz. „Die Lage ist unter die humanitäre Untergrenze gesunken“, sagte das Flüchtlingshilfswerk. Der Prozess soll am 15. September stattfinden.

Mediale Kritik an Asylpolitik

Auch in den Medien ist eine Debatte entbrannt. „Ein Land, das einerseits großzügig Asylbewerber aufnehmen will, andererseits aber mit einem strukturellen Mangel an Unterkünften, Aufnahmezentren, Personal und Integrationseinrichtungen konfrontiert ist, kann sich einer grundlegenden Debatte über die Frage nicht entziehen, wie viele Menschen willkommen sind, unter welchen Mindestbedingungen wir sie aufnehmen wollen und was dafür organisiert werden muss“, hieß es in einem Kommentar der Amsterdamer Zeitung „de Volkskrant“.

Tage zuvor schrieb die Zeitung „NRC Handelsblad“, dass es unausweichlich sei, dass alle Gemeinden zur Aufnahme von Asylbewerbern beitragen müssten. „Niemandem ist mit der ‚Nicht in meinem Hinterhof‘-Haltung einiger Gemeindeverwaltungen gedient, die von vornherein mit dem Widerstand von Anwohnern rechnen.“