Hintergrund aller Aufregung: In Großbritannien werden Regenwasser und Abwässer in denselben Rohren zu den Kläranlagen geleitet. Bei starken Regenfällen ist die Kapazität aber zum Teil nicht ausreichend, vor allem wenn wie nach der jüngsten Hitzewelle der ausgetrocknete Boden das Wasser nicht schnell aufnehmen kann. Dieser Umstand kann zum Überlaufen von Klärwerken und damit zu Überflutungen von Häusern und Straßen führen.
Aus diesem Grund ist es in Großbritannien zulässig, dass gelegentlich überschüssiges Abwasser direkt in das Meer und die Flüsse geleitet wird – das nutzten zuletzt etliche Kläranlagen. Dutzende Strände wurden daraufhin wegen Verschmutzung gesperrt – Frankreich war empört. Indem man zulasse, dass Abwässer ungefiltert in den Ärmelkanal und die Nordsee fließen, würden Flora und Fauna der Gewässer und auch die Gesundheit der Menschen bedroht, hieß es.
Plan bis 2050: Kein Ausfluss von Abwasser mehr
Ein Sprecher der britischen Regierung wies die Vorwürfe zurück und bezeichnete sie als „schlicht nicht wahr“. Man sei zwar nicht mehr EU-Mitglied, doch über verschiedene UNO-Konventionen zur Reinhaltung des Wassers verpflichtet. Allerdings zeigten jüngst Daten der Umweltbehörde Environment Agency, dass sich die Menge der ungeklärt abgeleiteten Abwässer zwischen 2016 und 2021 beinahe verdreißigfacht hat.

Als Ziel gibt die britische Regierung nun das Ziel aus, wonach bis 2050 kein Ausfluss von Abwasser mehr möglich sein soll – mit Ausnahme von ungewöhnlich heftigen Regenfällen. Die voraussichtlichen zusätzlichen Kosten für die Verbraucherinnen und Verbraucher von durchschnittlich 42 Pfund pro Jahr bis 2050 seien den Preis wert, gab Umweltminister Eustice gegenüber dem Sender BBC Radio 4 an.
Opposition zürnt
Die Opposition zeigte sich wegen der Regierungspläne entrüstet. Die Verbraucher müssten die Rechnung zahlen für den „Dreck, den die Unternehmen angerichtet haben“, sagte Tim Farron von den Liberaldemokraten. „Während sie Geld scheffeln, schwimmen wir in Abwasser“, sagte Farron.
Doch eine umfassende Reform des Abwassersystems wird es laut den aktuellen Plänen nicht geben. Eine vollständige Trennung zwischen Regen- und Abwasser würde laut den Behörden zwischen 350 und 600 Mrd. Pfund (415 bis 711 Mrd. Euro) kosten und würde um ein Vielfaches länger dauern als bis 2050. Denn das Ausmaß der betroffenen Orte ist enorm.
Problem an 15.000 Stellen
Allein in England gibt es 15.000 Stellen, an denen Überlauf ausfließen kann. Das sei ein Erbe der viktorianischen Abwasserinfrastruktur, sagte Eustice. Seit Jahrzehnten hätten konservative wie Labour-Regierungen eine Reform versäumt, um die Nebenkosten für die Haushalte nicht zu erhöhen. Nun koste es eine moderate Summe, das Problem in den kommenden Jahren zu beheben.
Die EU-Kommission hatte bereits 2012 vor Gericht versucht, die Abwasserableitung einzuschränken. Damals kam das Gericht zu dem Schluss, dass ungeklärte Ableitungen nur unter „außergewöhnlichen“ Umständen wie nach schwerem Regen stattfinden dürfen.
Hohe Dunkelziffer vermutet
Davon kann heute keine Rede sein – und von einer hohen Dunkelziffer bei abgeleitetem Wasser wird ausgegangen. Rund ein Viertel der Abwässer sei im vergangenen Jahr unüberwacht ins Meer gespült worden, weil Kontrollanlagen nicht funktionieren, ergab eine Auswertung der Liberaldemokraten. „Das ist ein nationaler Skandal, und diese neuen Zahlen stinken nach Vertuschung“, so Umweltsprecher Farron. Er hatte den privatisierten britischen Abwasserunternehmen schweres Versagen vorgeworfen.
Torys gegen strengere Gesetze
Zu den Kritikern des Systems gehört auch Umweltaktivist Stanley Johnson, Vater des scheidenden Premierministers Boris Johnson. Im Gespräch mit seiner Tochter Rachel Johnson im Radiosender LBC kritisierte er die Regierung in der Causa Abwässer scharf. Sie habe sich nicht ausreichend darum gekümmert, die Unternehmen zur Verantwortung zu ziehen.
Johnsons Torys hatten im vergangenen Herbst eine Änderung des Umweltgesetzes verweigert, die Wasserunternehmen gesetzlich dazu verpflichtet hätte, kein Abwasser mehr in Flüsse zu pumpen. Die Favoritin für Johnsons Nachfolge, Liz Truss, hatte zudem laut „Guardian“ als Umweltministerin einst Millionen Pfund gestrichen, die für den Kampf gegen Wasserverschmutzung geplant waren. Sie sagte, es brauche im Wassersektor mehr Transparenz, mehr Investitionen und Überwachung.