Zerstörtes russisches Kriegsmaterial
AP/Rodrigo Abd
Ukraine

Erfolg mit improvisierten Waffensystemen

Dass Russland die ukrainische Armee unterschätzt hat, ist mittlerweile offensichtlich. Das liegt nicht nur, aber verstärkt auch an Waffenlieferungen aus dem Westen, allen voran aus den USA. Ein Problem dabei: NATO-Standard und Waffensysteme, oft noch aus ex-sowjetischer Produktion, passen häufig nicht zusammen. Hier beweisen die ukrainischen Streitkräfte allerdings laut Militärexperten beachtliches Improvisationstalent – und haben damit Erfolg.

Ein großer Teil der Waffen, die die ukrainische Armee verwendet, wurde noch zu Zeiten der ehemaligen Sowjetunion entwickelt bzw. nach entsprechenden Plänen weiterentwickelt, angefangen von Kampf- und Schützenpanzern (aus der T- und BMP-Reihe), Flugzeugen, über Artillerie- und Flugabwehrsysteme bis zu Infanteriewaffen, allen voran dem Sturmgewehr AK-47. Schon hier unterscheiden sich Munition und Kaliber vom NATO-Standard, ganz zu schweigen von Kompatibilitätsproblemen bei hochmodernen Raketensystemen aus US-Produktion.

Dennoch, hieß es zuletzt etwa in einer Analyse der „New York Times“, gelinge es den ukrainischen Streitkräften, von Verbündeten gelieferte Waffensysteme – oft in stark improvisierter, mit eigenen Mitteln „schnell zusammengebastelter“ Form – sehr erfolgreich einzusetzen.

Panzer T-72 in der Ostukraine
APA/AFP/Miguel Medina
Alt und neu oft nicht kompatibel: T-72-Panzer aus ex-sowjetischer Entwicklung, gebaut ab 1972

Raketen würden etwa auf Lastkraftwagen oder Schnellboote montiert, womit sie sehr rasch an ihren Einsatzort verlegt werden könnten. „Zur Überraschung von Waffenexperten“, wie es in der US-Zeitung weiter heißt, sei es den ukrainischen Truppen auch gelungen, russische Ziele erfolgreich etwa mit Bayraktar-Drohnen türkischer Bauart bzw. umgebauten „billigen“ Kleinflugzeugen, von denen Sprenggranaten abgeworfen würden, anzugreifen.

Der „MacGyver“-Effekt

Experten fühlten sich etwas an die US-TV-Serie „MacGyver“ aus den 1980er Jahren erinnert, heißt es in dem Artikel unter dem Titel „The ‚MacGyvered‘ Weapons in Ukraines Arsenal“, in der der Protagonist Angus MacGyver dadurch hervorsticht, Probleme und alle möglichen gefährlichen Situationen durch die improvisierte Nutzung alltäglicher Hilfsmittel zu lösen. Der Vergleich mag etwas überzogen und für einen Krieg nicht ganz passend sein.

Dennoch: Als Beispiel nennt die „New York Times“ den Angriff auf die „Moskwa“, das Flaggschiff der russischen Schwarzmeer-Flotte am 13. April. Dieser, so die US-Zeitung, sei mit Antischiffsraketen vom Typ „Neptun“ erfolgt, einer ukrainischen Weiterentwicklung einer „alten Sowjet-Antischiffsrakete“ („Kh-35“) mit modernisierter Steuerungselektronik und erhöhter Reichweite. Russland nannte als Grund für das Sinken der „Moskwa“ einen Brand an Bord, die Ukraine einen Angriff mit zwei Raketen – laut einem in der „New York Times“ nicht namentlich genannten Militärexperten „montiert auf einen oder mehrere Lkws“, mit dem sie in Reichweite gebracht worden seien.

Start einer Neptun Rakete der ukrainischen Armee
National Security and Defence Council Press Service
Angriff auf russisches Flaggschiff „Moskwa“ soll mit „Neptun“-Raketen erfolgt sein

Der Angriff auf das russische Flaggschiff sei die Bewährungsprobe für den Raketentyp gewesen, das erste Mal sei dieser (im Einsatz seit 2021) überhaupt in einem Krieg verwendet worden. Die ukrainische Armee habe ein „sehr effektives Anti-Schiff-System“ entwickelt, das sich, auf Fahrzeuge montiert, einfach bewegen lasse, so Generalleutnant a. D. Frederick B. Hodges, früher Kommandierender der US-Landstreikkräfte für Europa und Afrika, gegenüber der „New York Times“.

„So viel wie nur möglich herausgeholt“

Militärische Erfolge hätten die ukrainischen Streitkräfte gleichfalls mit den türkischen Bayraktar-TB2-Drohnen („Fahnenträger“) erzielt, derart, dass der Vorstandsvorsitzende des Herstellers, Haluk Bayraktar, in einem Interview mit dem ukrainischen TV davon gesprochen habe, dass sie „so viel wie nur möglich aus diesen Systemen herausgeholt“ hätten. Für das US-Militär sei es ein Rätsel, wieso die dichte russische Luftabwehr nicht mehr gegen die Aufklärungs- und Kampfdrohnen ausrichten könne. Nachdem diese nur rund 130 Stundenkilometer schnell seien, seien sie eigentlich für Radarsysteme leicht zu orten.

Drone Bayraktar TB2 wird am Unabhänigkeitstag in Kiew präsentiert
AP/Efrem Lukatsky
Drohnen aus türkischer Produktion

Neue Raketen auf alten Kampfjets

Ein weiteres Beispiel: Laut einem – wiederum namentlich nicht genannten – Beamten des Pentagon sei es der ukrainischen Luftwaffe gelungen, MiG-29-Kampfjets, ein weiteres Waffensystem aus ex-sowjetischer Entwicklung, mit US-Raketen des Typs AGM-88 HARM auszurüsten. Die Raketen dienen speziell der Bekämpfung bodengestützter Radaranlagen und seien „normalerweise nicht kompatibel mit der MiG-29 oder anderen Kampfflugzeugen aus dem Arsenal der Ukraine“.

Kampfflugzeug MIG-29
Reuters/Gleb Garanich
Nicht irgendeine Rakete auf beliebigem Kampfjet

Es sei der ukrainischen Armee gelungen, Zielsensoren so umzubauen, dass Piloten die US-Waffe von den alten MiGs aus abfeuern könnten, zitierte die „New York Times“ den Beamten des Verteidigungsministeriums in Washington aus einem Briefing des Pentagon mit Verweis auf ein offizielles Sprechverbot. Die umgebauten Raketen könnten Ziele in einer Entfernung von über 100 Kilometern treffen.

Offensive auf der Krim

Die Wirksamkeit der von westlichen Unterstützern teils umfunktionierten Waffensysteme, so die „New York Times“, zeige sich aktuell auch auf der 2014 von Russland annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim, wo ukrainische Verbände in den letzten Wochen mehrfach Angriffe durchgeführt hatten. Ein Ziel war Mitte August der südwestliche Luftwaffenstützpunkt Saki, mehrere russische Kampfflugzeuge wurden zerstört. Später hätten ukrainische Verbände Munitionsdepots und Logistikstützpunkte hinter den russischen Linien angegriffen. Schließlich soll es einen Angriff auf einen Militärflughafen nahe Sewastopol gegeben haben.

Wissen kommt nicht von ungefähr

Das Wissen, das hinter dem vermeintlichen Improvisationstalent steckt, kommt allerdings nicht von ungefähr. Die „New York Times“ verweist auf die Geschichte der Ukraine als Waffenschmiede noch in Zeiten der Sowjetunion. „Für Jahrzehnte“, heißt es dort, sei sie „das Herz der Verteidigungsindustrie“, erst der UdSSR und dann Russlands, gewesen. Turbinen für Kriegsschiffe, Panzer und Flugzeuge seien dort gebaut worden, ein prominentes Beispiel: die Antonow An-124, eines der weltweit größten Frachtflugzeuge, aktuell von Russland genutzt, um für Waffennachschub zu sorgen.

Nicht immer helfen Verbündete aus

Speziell, wie das erwähnte US-Raketensystem HARM an die MiGs angepasst wurde, zeige das technologische Know-how der ukrainischen Armee, so Ex-US-Kommandeur Hodges. Man könne nicht schlicht „irgendeine Art von Rakete an irgendein beliebiges Flugzeug hängen“, sagte er im Interview. Es gehe um Faktoren wie Avionik, das Zusammenspiel aller Systeme in einem Überschalljet, und andere. „Sie haben es geschafft.“

Die USA räumen auch ein, die Ukraine taktisch zu unterstützen – eine Gratwanderung gegenüber Russland. Beim Angriff auf die „Moskwa“ etwa war die Rede davon, dass Washington mit Zielkoordinaten ausgeholfen hatte, was offiziell nicht bestätigt wurde. Die letzten Angriffe auf der Krim, etwa auf den russischen Luftwaffenstützpunkt, seien allerdings, heißt es, ohne Wissen der USA und anderer westlicher Verbündeter erfolgt. Es habe keine Informationen im Voraus gegeben. Diese seien, wie Umbauten an Waffensystemen, „hausgemacht“ gewesen.

Bluff mit Raketen aus Holz

Manchmal sind die Ideen der ukrainischen Armee tatsächlich ungewöhnlich. Laut einem Bericht der „Washington Post“ setzt sie gegen die russischen Truppen im Land – oder eher für sie – auch Waffenattrappen ein.

Dabei gehe es etwa um Nachbildungen moderner US-Raketensysteme aus Holz, schrieb die Zeitung zuletzt in einem Exklusivbericht unter Berufung auf Informationen und Bildmaterial aus der US- und der ukrainischen Armee. Auf diese Weise seien die russischen Streitkräfte dazu gebracht worden, teure Marschflugkörper vom Typ Kalibr auf harmlose Replikate zu verschwenden.