Tolkien schrieb einmal in einem Brief über die Verbindung zwischen Sage und Sprache: „Zum Beispiel hängt die griechische Mythologie viel mehr, als sich die Leute klarmachen, von der wunderbaren Ästhetik ihrer Sprache ab, und so auch von ihrer Nomenklatur der Personen und Orte und weniger von ihrem Inhalt.“ Der Mythos kam bei Tolkien vor den Geschichten, inklusive einer eigenen Sprache und Religion. Für Tolkien bestehe kein Unterschied zwischen dem Wahrnehmen und dem Benennen, sagte die Literaturwissenschaftlerin und Tolkien-Expertin Verlyn Flieger von der Universität Maryland in einem Interview der aktuellen Sondernummer des „Philosophie“-Magazins zum Start der Serie.
Mittelerde, Mordor, Sauron – Namen, die klingen, die bei Fantasy-Fans Gänsehaut bewirken. Ein solcher Fan ist Ross Douthat, ein Kritiker der „New York Times“. Er beschwor in seinem Text von Mittwoch eine neue Welt herauf: Mit den neuen Serien zu „Game of Thrones“ und „Herr der Ringe“ sei endgültig das Zeitalter des Megablockbuster-Streamings angebrochen. Alleine die 50 Stunden der „Herr der Ringe“-Serie werden bis zur letzten Staffel Milliarden an US-Dollar verschlungen haben. Eine Investition, die sich auszahlen muss.
„Beleidigung für Tolkien“
Zwei Folgen der ersten Staffel gingen vorab an Medien. Douthat von der „New York Times“ schrieb, dass die Bilder atemberaubend sind, aber die Story ganz im Mythos, an den Orten und in der Figurenzeichnung verharrt. Auf einer zweiten Ebene gehe nichts weiter: dem Storytelling, der Politik, dem, was man gemeinhin Handlung nennt. Tolkien hätte sich über dieses Urteil wohl gefreut, der Inhalt war ihm ja dezidiert zweitrangig. Und die Fans draußen im Social-Media-Universum, sie sind zwiegespalten.
In den am öftesten gelikten Postings unter dem YouTube-Trailer zur Serie finden sich Aussagen wie: „Im Lande von Amazon, in den Feuern von Mount Prime, erschuf der dunkle Lord Bezos im Geheimen einen Riesenflop. Und in seine Serie pumpte er sein Geld, seine Habgier und seinen Willen, über alle Filme zu dominieren. Eine Serie – und sie ruiniert sie alle.“ Oder: „Respekt für Amazon. Es gibt wenige Unternehmen, die bereit wären, so viel Geld zu versenken, nur um Tolkien zu beleidigen.“
Tolkientypische Langsamkeit
Eine differenziertere Kritik bringt der YouTube-Account „Nerd of the Rings“, dem immerhin über 600.000 ebensolche Nerds folgen. Im Grunde, heißt es da, könne man nach den ersten beiden Folgen über die Handlung noch nicht viel sagen. In den einzelnen Dialogen aber erweise sich, dass das Drehbuchteam Tolkien respektiert und kennt. Wer eingelesen ist, erkenne, wie weit einzelne Anspielungen in die Tiefe des Mittelerde-Universums reichen. Die Figuren und die Schauplätze werden hier ebenfalls gelobt. Die meisten schlimmen Erwartungen seien nicht wahr geworden.
So ähnlich fasst auch die BBC das Medienecho zusammen: betörende Bilder, aber sehr langsam, was die Handlung betrifft. Wer Tolkien-Fan ist und die Bücher gelesen hat, wird sich an Langsamkeit nicht stören und sich an den aufwendigen Schauplätzen und den hauptsächlich neuen Charakteren erfreuen. Neu deshalb, weil die Handlung mehrere tausend Jahre vor jener der Filme angesiedelt ist. Da Tolkien über dieses Zeitalter nicht ganz so viel geschrieben hat, blieben dem Drehbuchteam viele Freiheiten.
Statisten „mit Missbildungen“ gecastet
Amazon drehte seit vorigem Jahr in Auckland und beschäftigte für die Produktion mehr als 1.200 Mitarbeiter, weitere 700 waren laut der neuseeländischen Regierung indirekt involviert. Dabei hatte für Aufhorchen gesorgt, dass die engagierte Castingagentur im Vorfeld Aufrufe für Statisten mit „Missbildungen“ respektive für „haarige Menschen“ und „stämmige, gemein aussehende Biker“ gestartet hatte. Nicht alles ist Maske, offenbar.
Und all diese Charaktere wollen in Stellung gebracht werden – vielleicht kommt die langsame Handlung ja danach in Schwung. Jetzt erfährt man einmal Basic Facts über erhabene Elben, zwielichtige Menschen, starrköpfige Zwerge und eine dunkle Bedrohung. Wie schon Peter Jackson in seiner mittlerweile legendären Kinoverfilmung der Buchtrilogie lassen auch die Macher der neuen Serie die Eröffnungssequenz aus dem Off kommentieren.
Kein Ende des Bösen
Die junge Waliserin Morfydd Clark gibt einer ziemlich kriegerisch angelegten Elbin nicht nur eine starke Stimme, sondern auch eine gesunde Portion Sturheit mit auf den Weg. Sie will, im Unterschied zu ihrem Volk, nicht an ein Ende des Bösen glauben und macht sich selbst in Zeiten des augenscheinlichen Friedens auf die Suche nach ihm – nach Sauron.
An ganz anderer Stelle geht unterdessen ein Feuerball auf Mittelerde nieder, der einen bärtigen, seltsame Dinge vor sich hin brabbelnden Fremden (Daniel Weyman) in sich verbirgt. Gefunden wird er von der jungen Harfüßin Nori (Markella Kavenagh), die im Unterschied zu den restlichen Hobbit-Vorfahren ziemlich viel Neugier und Abenteuerlust mitbringt. Mehr sei über die Handlung an dieser Stelle nicht verraten.
Wie überzeugend die Umsetzung von Tolkiens Zweitem Zeitalter der Mittelerde gelingt, wird sich jedenfalls erst weisen – immerhin wird das Vorhaben mit einem in jeder Hinsicht diversen Cast angegangen. Womöglich gilt für „Die Ringe der Macht“ aber ebenso wie für Tolkiens gesamtes Werk: Es braucht Durchhaltevermögen.