Frau bemalt Stiegen in basilianischen Nationalfarben
AP/Leo Correa
200 Jahre Brasilien

Von Portugals Kolonie zu Chinas Kapital

Am 7. September 1822 hat Brasilien seine Unabhängigkeit von Portugal erklärt. 200 Jahre später kann das Land auf eine in vielerlei Hinsicht ungewöhnliche Geschichte zurückblicken. Eine Geschichte, die nach wie vor stark die Gegenwart Brasiliens prägt. Mit einem großen Unterschied: War es einst Portugal, das einen großen Einfluss auf die Geschicke des Landes ausübte, ist es heute China.

Brasilien, das Land, das gleich lang wie breit ist, das mehrmals in seiner Geschichte seine Hauptstadt verlegte, das aufgrund vieler verschiedener Einwanderungswellen eine der diversesten Bevölkerungen der Welt aufweist und in dessen Nationalflagge sich bis heute das habsburgische Goldgelb findet. Dieses Brasilien feiert am Mittwoch den Tag, an dem es seine Unabhängigkeit vom ehemaligen Vereinigten Königreich von Portugal, Brasilien und den Algarven erklärte.

Auch der Weg der Loslösung Brasiliens von der portugiesischen Kolonialmacht war alles andere als gewöhnlich: 1807, genau einen Tag vor dem Einmarsch von Napoleons Truppen, verlegte die portugiesische Königsfamilie ihre Residenz von Lissabon nach Rio de Janeiro, um von nun an von der „Neuen Welt“ aus zu regieren. „Das ist in der Geschichte außergewöhnlich, dass ein König mit seinem Hofstaat alles zusammenpackt und in die eigene Kolonie flieht“, sagt die Lateinamerikaprofessorin und Brasilien-Expertin Ursula Prutsch gegenüber ORF.at.

Kongressgebäude in Brasilia
Reuters/Adriano Machado
Im Laufe der Geschichte wurde Brasiliens Hauptstadt zuerst von Salvador da Bahia nach Rio de Janeiro und dann nach Brasilia verlegt – Architekt Oscar Niemeyer entwarf die öffentlichen Gebäude für die neue Hauptstadt

Unabhängigkeit als „familiäre Angelegenheit“

Von da an hätten sich die Machtverhältnisse zwischen Portugal und Brasilien „schon ein wenig umkehrt“. Die Unabhängigkeit durchgesetzt habe dann letztendlich der Königssohn, „Dom Pedro“, gemeinsam mit seiner Ehefrau, Leopoldine von Habsburg.

Das Herz des Befreiers

Das Herz von „Dom Pedro“, dem „Befreier Brasiliens“ wurde, in Formaldehyd eingelegt, anlässlich der Feierlichkeiten zur Unabhängigkeitserklärung am 24. August 2022 nach Brasilien zurückgebracht.

Der „komplexe und langwierige“ Unabhängigkeitsprozess sei daher nicht zuletzt auch eine „familiäre Angelegenheit“ zwischen dem Sohn in Brasilien und seinem nach Portugal zurückgekehrten Vater gewesen, so Prutsch. Schließlich habe es sich um einen „Kampf gegen den eigenen Vater, den König, gegen das Parlament in Portugal und Widerstände in Brasilien selbst“ gehandelt. Im Vergleich zu vielen anderen lateinamerikanischen Unabhängigkeitskämpfen sei dieser jedoch um einiges unblutiger verlaufen.

Christus-Statue in Rio
Getty Images/The Image Bank RF/Christian Adams
Die brasilianische Christusstatue in Rio de Janeiro soll an 100 Jahre Unabhängigkeit erinnern

Hoher Preis für Wohlstand

Zu den dunkleren Kapiteln in der Geschichte des größten lateinamerikanischen Landes zählt, neben der Militärdiktatur, auch die Tatsache, dass das unabhängige Brasilien als eines der letzten Länder der Welt die Sklaverei abschaffte – nämlich erst 1888. Zu „lukrativ“ sei das Geschäft mit den Sklavinnen und Sklaven damals gewesen, erklärt Prutsch. Die aus Afrika verschleppten Sklaven mussten vor allem auf den Feldern und Plantagen der mächtigen Kaffee- und Zuckerbarone arbeiten.

Mit Exportfrüchten sei es Brasilien gelungen, zu großem Wohlstand zu kommen – „wobei der Reichtum immer in den Händen einiger weniger war“, fügt Prutsch hinzu. Dieser Wohlstand habe zu dem Paradoxon geführt, dass Brasilien der ehemaligen Kolonialmacht Portugal immer wieder finanziell unter die Arme greifen musste – vor allem in den 1930er bis 70er Jahren.

Indigene am Amazonas
Reuters/Bruno Kelly
Noch heute kämpfen Indigene, hier am Amazonas, und Afrobrasilianer und -brasilianerinnen um ihre Rechte

Brasilien als Juniorpartner der USA

Das erste Land, das die Unabhängigkeit Brasiliens anerkannte, waren die USA. „Brasilien hat sich immer als so eine Art von Juniorpartner der USA gesehen“, meint Prutsch. „Als die USA dann schon als imperialistische Macht im frühen 20. Jahrhundert zentralamerikanische Staaten ökonomisch unter Druck gesetzt haben, hat sich Brasilien meist auf die Seite der USA geschlagen.“ Das zeige sich etwa auch darin, dass Brasilien als einziges Land Lateinamerikas aktiv mit Truppen am Zweiten Weltkrieg teilgenommen hat – an der Seite der Alliierten.

In den Köpfen vieler Brasilianer und Brasilianerinnen werden die USA heutzutage nichtsdestoweniger als der „böse Hegemon“ wahrgenommen, der etwa auch starken Einfluss in der Popkultur hat, so Prutsch.

Brasilianische Bohnen werden im Hafen von Nantong City insipiert
AP/FeatureChina/Xu Congjun
China hat die USA nach langem Wettrennen als Nummer-eins-Handelspartner von Brasilien abgelöst

„China präsentiert sich als stille, freundliche Macht“

Die Gegenwart sehe jedoch ganz anders aus. Statt den USA ist nun China dominant. Prutsch meint dazu: „China kam sehr subtil daher und hat sich im Laufe der letzten 20, 30 Jahre Positionen in verschiedensten Bereichen verschafft. In der Kultur, in der Wissenschaft, in der Ökonomie, in der Infrastruktur, im Finanzsektor.“ Mittlerweile sei es China auch gelungen, die USA als Nummer-eins-Handelspartner von Brasilien abzulösen.

Sendungshinweis

Ö1 widmet sich in einem Schwerpunkt dem Thema 200 Jahre Unabhängigkeit Brasiliens – mehr dazu in oe1.ORF.at.

Den Einfluss Chinas auf Brasilien, aber auch auf ganz Lateinamerika bezeichnet die Expertin als „stark“. Das Land sei Hauptabnehmer des brasilianischen Sojas, des Eisenerzes und des Rohöls. Zugleich verkaufe China „sehr viel Telekommunikation“ nach Brasilien.

„China fährt eine andere Strategie“, stellt Prutsch fest. „Das Land kommt nicht mit einem moralischen Impetus, mit dem die Europäische Union oft kommt – zu Recht angesichts der enormen Naturzerstörung“, verweist die Expertin etwa auf das nicht zustande gekommene EU-Mercosur-Abkommen. Und: Im Gegensatz zu europäischen Staaten muss sich China auch nicht dem Vorwurf des Kolonialismus stellen. „China präsentiert sich als stille, freundliche Macht.“

Ausverkauf Brasiliens an China?

Die Befürchtung, dass bei einem Wahlsieg des linken Präsidentschaftskandidaten Luiz Inacio Lula da Silva ganz Brasilien an China ausverkauft werde, weist Prutsch zurück. China habe zwar offiziell noch kommunistische Diskurse, die Wirtschaft sei aber „sehr kapitalistisch“ orientiert. Dazu komme: Lula werde von seinen Gegnern zwar als kommunistisch gebrandmarkt, seine Arbeiterpartei sei jedoch klassisch sozialdemokratisch.

Fotostrecke mit 2 Bildern

Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro
Reuters/Adriano Machado
Amtsinhaber Jair Bolsonaro stellt sich am 2. Oktober erneut der Wahl zum Präsidenten …
Brasiliens Ex-Präsident Luiz Inacio Lula da Silva
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… ebenso wie Luiz Inacio Lula da Silva, der von 2003 bis 2011 das Amt des Präsidenten bekleidete

Doppelspiel vermutet

Der ultrarechte Kandidat und Amtsinhaber Jair Bolsonaro arbeite unterdessen an einer „christlich, fast rechtsradikalen Vorstellung eines neuen Abendlandes. Und da passt China natürlich nicht rein.“ Zumindest nicht auf den ersten Blick.

Zwar sei auch das durch Bolsonaro zu neuer Macht gekommene Militär daran interessiert, dass Brasilien souverän bleibe, zugleich fördere das Militär die Extraktion von Rohstoffen und profitiere davon, meint Prutsch etwa in Hinblick auf seine starke Präsenz im Amazonas-Raum. Insgesamt seien rund 6.000 Posten in der höheren Verwaltung und in Ministerien von Militärs besetzt.

„Die Militärs haben eine doppelte Strategie. Sie argumentieren mit nationaler Souveränität und dem Schutz des Amazonas-Raumes und machen im Hintergrund mit allen möglichen Partnern Geschäfte“ – seien es China oder die USA oder multinationale Unternehmen, die auf Kosten des fragilen Ökogleichgewichtes gehen.“

Kinder in einem Boxring auf den Straßen von Sao Paulo
Reuters/Amanda Perobelli
Vor allem in den großen Städten Brasiliens finden sich die Favelas, die Armenviertel

„Ordnung und Fortschritt“

Klar sei aber: Das portugiesische „ordem e progresso“ (dt.: „Ordnung und Fortschritt“, das die Gründerväter der Republik als Motto auserkoren hatten, gelte auch noch 200 Jahre nach Erreichung der Unabhängigkeit, zeigt sich Prutsch überzeugt. „Die Frage ist nur, ist es ein ökonomischer Fortschritt, der auf Kosten der Ressourcen von Mensch und Natur geht? Oder ist es ein demokratiepolitischer Fortschritt hinsichtlich einer pluralen Gesellschaft, die auch endlich Indigenen und Afrobrasilianern und -brasilianerinnen gesamtgesellschaftlich besser integriert und ihnen politisch aktive Mitsprache gibt?“

Die Chancen dafür stünden gut, schließlich werde am 2. Oktober nicht nur ein neuer Präsident gewählt, sondern auch 28.000 politische Posten neu besetzt. „Und da ist es schon interessant, dass 33 Prozent der Kandidaten Frauen sind und fast 50 Prozent dunkelhäutig.“

Was die Wahl des Staatsoberhauptes betrifft, stelle der 2. Oktober für Prutsch eine „Richtungswahl“ dar. Aus keinem geringeren Grund, als dass „die Zukunft einer der größten Demokratien der Welt in Gefahr ist“.