Zerstörtes Wohngebäude in Charkiw, Ukraine
Reuters/ Kharkiv Region Prosecutor’s Office
Charkiw

Russland meldet Entsendung neuer Truppen

Russland schickt als Reaktion auf die ukrainische Gegenoffensive gepanzerte Fahrzeuge und Artillerie zur Verstärkung in die Region Charkiw. Das meldeten russische Agenturen am Freitag. Zudem wurden Videos des Verteidigungsministeriums veröffentlicht, die Truppenbewegungen zeigen. US-Außenminister Antony Blinken sagte, der Schritt zeige, dass die russischen Streitkräfte einen „hohen Preis“ zu zahlen hätten. Die Ukraine hatte in den vergangenen Tagen Erfolge in der Region vermeldet, die räumte auch Russland ein.

Der von Moskau eingesetzten Verwaltungschef der Region Charkiw, Witali Gantschew, berichtete von einem „sehr scharfen und schnellen“ Vorstoß der Ukraine. „Der Feind wird so weit wie möglich aufgehalten, aber mehrere Siedlungen sind bereits unter die Kontrolle bewaffneter ukrainischer Verbände geraten“, sagte Gantschew in einem Livestream des staatlichen Fernsehens.

Es gebe etwa „heftige Kämpfe“ in der Nähe der Stadt Balaklija, deren Rückeroberung die Ukraine am Donnerstag vermeldet hatte. Dazu hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in seiner regelmäßigen Botschaft ein Video geteilt, das Soldaten vor dem Rathaus Balaklijas zeigen soll. Die Stadt mit einer geschätzten Bevölkerung von 27.000 Menschen war Anfang März unter russische Kontrolle gelangt.

Auch in weiteren Orten hatte die Ukraine zuletzt Erfolge vermeldet. Die ukrainische Armee habe seit Anfang der Woche im Gebiet Charkiw über 20 Orte befreit, sagte Generalstabsvertreter Olexij Hromow dazu am Donnerstag in Kiew. Auch in der Nähe von Kramatorsk im Gebiet Donezk hätten ukrainische Einheiten ihre Positionen um bis zu zwei Kilometer verbessern können.

Russischer Vertreter: „Bedeutender Sieg“ für Ukraine

Bei Slowjansk seien die Russen um bis zu drei Kilometer zurückgedrängt und das Dorf Oserne befreit worden. Im südukrainischen Gebiet Cherson seien die russischen Truppen an mehreren Abschnitten um zwei und bis zu mehrere Dutzend Kilometer zurückgedrängt worden. Insgesamt seien Gebietsgewinne von mehr als 700 Quadratkilometern erzielt worden. An den anderen Frontabschnitten bestehe weiter eine „schwierige, jedoch nicht kritische Situation“.

Gantschew räumte einen Erfolg der ukrainischen Truppen ein. „Allein die Tatsache, dass unsere Verteidigung durchbrochen wird, ist bereits ein bedeutender Sieg für die ukrainischen Streitkräfte“, sagte er dem russischen Staatsfernsehen.

Erst am Donnerstag hatte er mitgeteilt, dass aufgrund der vorrückenden ukrainischen Truppen Frauen und Kinder aus der Stadt Kupjansk gebracht worden seien. Am Freitag wurden auch Evakuierungen aus Isjum und Welykyj Burluk gemeldet.

Raketenangriff auf Charkiw gemeldet

Gleichzeitig meldete die Ukraine neue Angriffe auf die Stadt Charkiw selbst. Das Zentrum sei von russischen Raketen getroffen worden, es gebe zehn Verletzte, so der Gouverneur der gleichnamigen Region, Oleh Synjehubow. Raketen seien in einer Schule und einem Kunstzentrum für Kinder eingeschlagen, teilt Ihor Terechow, der Bürgermeister der zweitgrößten ukrainischen Stadt, ebenfalls auf Telegram mit. Auch Wohnhäuser seien getroffen worden.

Zerstörung nach russischem Angriff auf Charkiw, Ukraine
Reuters/Viacheslav Ratynskyi
In den vergangenen Tagen war bereits mehrfach Beschuss auf Charkiw gemeldet worden

USA: „Sehen Erfolge“

Auch die USA sehen Fortschritte der Ukraine im Osten des Landes. „Wir sehen jetzt Erfolge in Cherson, wir sehen einen gewissen Erfolg in Charkiw – und das ist sehr, sehr ermutigend“, sagte der Ex-General am Freitag am Rande eines Besuchs in Prag. Erst am Donnerstag hatte US-Außenminister Blinken bei einem unerwarteten Besuch in Kiew langfristige Militärhilfe seines Landes in Höhe von 2,2 Milliarden Dollar (2,2 Mrd. Euro) für die Ukraine und weitere 18 Länder der Region angekündigt.

Nach Einschätzung britischer Militärexperten machen den Russen vor allem Angriffe der Ukrainer auf Flussübergänge Probleme. Wie aus dem täglichen Geheimdienstupdate des Verteidigungsministeriums in London hervorgeht, zerstörten die ukrainischen Verteidiger eine Pontonbrücke entlang einer wichtigen Nachschubroute in der Region Cherson. „Die systematischen Präzisionsschläge gegen anfällige Flussübergänge dürften weiter Druck auf die russischen Kräfte ausüben (…)“, betonten die britischen Experten.

NATO sieht Krieg vor „kritischer Phase“

NATO-Generalsekretät Jens Stoltenberg sieht den Krieg angesichts der Gegenoffensive vor einer „kritischen Phase“. Ukrainische Streitkräfte seien dank der Unterstützung aus NATO-Staaten zuletzt in der Lage gewesen, Moskaus Offensive im Donbas zu stoppen und Territorium zurückzuerobern, sagte Stoltenberg in einer Pressekonferenz mit Blinken.

Die Solidarität des Westens dürfe nun trotz Energiekrise und steigender Lebenshaltungskosten nicht nachlassen. „Der Preis, den wir zahlen, wird in Geld gemessen. Der Preis, den die Ukrainer zahlen, wird in Leben gemessen“, sagte Stoltenberg. Wenn die Ukraine aufhöre zu kämpfen, werde sie „als unabhängige Nation nicht mehr existieren“, warnte er. Deshalb müsse man am bisherigen Kurs festhalten – „um der Ukraine und um unser selbst willen“.

Ruf nach Abzug aus AKW Saporischschja

Zu schweren Gefechten kam es nach ukrainischen Angaben am Donnerstag erneut auch in der Nähe des Atomkraftwerks Saporischschja. Angesichts dessen fordert die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) einem Resolutionsentwurf zufolge Russland auf, alle Aktionen in den Atomanlagen in der Ukraine einzustellen.

Das geht aus einem Entwurf für die Sitzung des IAEA-Gouverneursrates kommende Woche hervor, der Reuters vorliegt. Dem Papier zufolge bedauert der Gouverneursrat „die anhaltenden gewaltsamen Aktionen der Russischen Föderation gegen Atomanlagen in der Ukraine“. Das schließe die anhaltende Präsenz russischer Streitkräfte und des Personals der russischen Atomaufsicht Rosatom im ukrainischen Atomkraftwerk Saporischschja ein. Russland sei aufgefordert, das unverzüglich zu beenden, wurde betont.