Grossi sprach von einer „dramatischen Entwicklung“ und einer „völlig inakzeptablen“ Lage. Die Stromversorgung der Stadt Enerhodar sei durch den Beschuss eines Wärmekraftwerks lahmgelegt worden. Da der Beschuss andauere, sei es vorerst wahrscheinlich nicht möglich, „eine zuverlässige externe Stromversorgung des Kraftwerks wiederherzustellen“.
Daher erwäge der staatliche ukrainische AKW-Betreiber Enerhoatom nun, den einzigen noch in Betrieb befindlichen Reaktor abzuschalten, der derzeit noch den Strom für die Kühlung und andere Sicherheitsanlagen des Atomkraftwerks produziert. Ohne externen Strom sei das Kraftwerk völlig auf seine Dieselgeneratoren angewiesen. Grossi hielt in einem Bericht am Montag fest, dass zwar Treibstoff für zehn Tage vorhanden sei, dass aber der Nachschub wegen der Kämpfe schwierig sei.
„Ernste Situation“
Grossi erklärte, er habe am Freitag von den IAEA-Mitarbeitern an Ort und Stelle von dem Beschuss erfahren, der im Laufe der Nacht zu der „ernsten Situation“ in dem Atomkraftwerk geführt habe. Der Beschuss des „gesamtes Gebiets“ müsse sofort aufhören.
Stromausfall bei AKW Saporischschja
Der Generaldirektor der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Rafael Grossi, hat eine Erklärung zur Lage im ukrainischen Kernkraftwerk Saporischschja abgegeben und die Einstellung des Beschusses in der Region gefordert.
Das AKW Saporischschja im Süden der Ukraine ist seit März von russischen Truppen besetzt. Das Kraftwerksgelände wurde in den vergangenen Wochen immer wieder beschossen, die Ukraine und Russland machten sich gegenseitig für diese Angriffe verantwortlich. In der vergangenen Woche war ein Expertenteam der IAEA unter Leitung Grossis zu dem AKW gereist und hatte dort Untersuchungen vorgenommen. Zwei IAEA-Fachleute sollen dauerhaft auf dem Kraftwerksgelände bleiben.
Auch diplomatische Appelle bleiben aufrecht: Laut einem Resolutionsentwurf für die Sitzung des IAEA-Gouverneursrates soll Russland dazu aufgefordert werden, alle Aktionen in den Atomanlagen in der Ukraine einzustellen. Dem Papier zufolge bedauert der Gouverneursrat „die anhaltenden gewaltsamen Aktionen der Russischen Föderation gegen Atomanlagen in der Ukraine“. Das schließe die anhaltende Präsenz russischer Streitkräfte und des Personals der russischen Atomaufsicht Rosatom im ukrainischen Atomkraftwerk Saporischschja ein. Russland sei aufgefordert, das unverzüglich zu beenden, wurde betont.
„Scharfer und schneller Vorstoß“ in Charkiw
Die Kämpfe im Osten der Ukraine hatten sich in den vergangenen Tagen wieder intensiviert, auch am Freitag. In der Region Charkiw berichtete der von Moskau eingesetzten Verwaltungschef Witali Gantschew von einem „sehr scharfen und schnellen“ Vorstoß der Ukraine. „Der Feind wird so weit wie möglich aufgehalten, aber mehrere Siedlungen sind bereits unter die Kontrolle bewaffneter ukrainischer Verbände geraten“, sagte Gantschew in einem Livestream des staatlichen Fernsehens. Die Rede war von Evakuierungen in Kupjansk, Isjum und Welykyj Burluk. Russland kündigte die Entsendung von Verstärkung an.
Gantschew räumte einen Erfolg der ukrainischen Truppen ein. „Allein die Tatsache, dass unsere Verteidigung durchbrochen wird, ist bereits ein bedeutender Sieg für die ukrainischen Streitkräfte“, sagte er dem russischen Staatsfernsehen. Gleichzeitig meldete die Ukraine neue Angriffe auf die Stadt Charkiw selbst. Das Zentrum sei von russischen Raketen getroffen worden, es gebe zehn Verletzte.
Ukraine vermeldete vielerorts Vorstoß
Es gebe etwa „heftige Kämpfe“ in der Nähe der Stadt Balaklija, deren Rückeroberung die Ukraine am Donnerstag vermeldet hatte. Auch in weiteren Orten hatte die Ukraine zuletzt Erfolge vermeldet. Die ukrainische Armee habe seit Anfang der Woche im Gebiet Charkiw über 30 Orte befreit, sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj am Freitagabend.
„Wir übernehmen nach und nach die Kontrolle über neue Siedlungen“, sagte Selenskyj am Freitagabend in einer Videoansprache. „Überall bringen wir die ukrainische Flagge und den Schutz für unser Volk zurück.“
USA sehen „Erfolg“
US-Verteidigungsminister Lloyd Austin wertete die von der Ukraine gemeldeten Geländegewinne im Süden und Osten als ein ermutigendes Zeichen. „Wir sehen jetzt Erfolge in Cherson, wir sehen einige Erfolge in Charkiw, und das ist sehr, sehr ermutigend“, sagte Austin. Auch NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sieht den Krieg angesichts der Gegenoffensive vor einer „kritischen Phase“.