Ukrainische Soldaten auf einem Panzer
APA/AFP/Juan Barreto
Berichte

Ukrainische Offensive erreicht Kupjansk

Die ukrainischen Streitkräfte bedrohen nach britischen Erkenntnissen die russischen Besatzer in der strategisch wichtigen Stadt Kupjansk in der Region Charkiw. Sollte der Ort zurückerobert werden, wäre das ein schwerer Schlag für die russischen Truppen, heißt es Samstagfrüh im jüngsten Lagebericht des britischen Militärgeheimdienstes. Kupjansk liegt an den russischen Nachschublinien zur Front im Donbas im Osten der Ukraine.

Die britischen Geheimdienstangaben untermauern Berichte vom Vortag, wonach ukrainische Einheiten weiter auf den strategisch wichtigen Verkehrsknotenpunkt vorrückten. Ukrainische Soldaten hätten im Süden und Westen bereits erste Außenbezirke der Stadt erreicht, heißt es dazu in diversen Medienberichten mit Verweis auf nicht näher genannte Quellen. In sozialen Netzwerken wurden zuletzt Bilder publiziert, auf denen Soldaten mit der ukrainischen Flagge neben einem Schild mit der Aufschrift Kupjansk zu sehen seien. Eine offizielle Bestätigung dafür gibt es nicht.

Nach mehr als einem halben Jahr Krieg sind die ukrainischen Truppen bei ihren Gegenoffensiven zuletzt im Gebiet Charkiw sowie im Gebiet Cherson im Süden vorgerückt. Die ukrainischen Speerspitzen seien mittlerweile auf enger Front bis zu 50 Kilometer weit in bisher russisch besetztes Gebiet vorgestoßen, teilte das britische Verteidigungsministerium am Samstag unter Berufung auf Geheimdiensterkenntnisse weiter mit. Das deckt sich mit Angaben der Ukraine aus den vergangenen Tagen. In dem Gebiet seien nur wenige russische Truppen versammelt gewesen, hieß es weiter. „Die russischen Kräfte wurden offenbar überrascht.“

Rückeroberungen in der Region Charkiw

In der Ukraine schreitet die Gegenoffensive weiter voran. Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht von mehr als 30 Siedlungen in der Region Charkiw, die zurückerobert werden konnten. Gleichzeitig wächst aber die Sorge rund um das Atomkraftwerk in Saporischschja.

„Ukrainische Einheiten haben mehrere Orte eingenommen oder umzingelt“, so das Ministerium weiter. Russische Kräfte rund um die Stadt Isjum würden immer isolierter, zudem rückten die Ukrainer auf die Stadt Kupjansk vor. „Ihre Eroberung wäre ein erheblicher Schlag für Russland, weil hier die Versorgungslinien für die Donbass-Front verlaufen“, hieß es in London. Auch im Gebiet Cherson im Süden des Landes gingen die ukrainischen Angriffe weiter. „Die russische Defensive ist sowohl an ihrer nördlichen als auch an ihrer südlichen Flanke unter Druck“, stellte das Ministerium fest.

Selenskyj: Über 30 Orte zurückerobert

Nach Angaben von Präsident Wolodymyr Selenskyj haben ukrainische Einheiten bereits mehr als 30 Siedlungen in der ostukrainischen Region Charkiw zurückerobert. „Wir übernehmen nach und nach die Kontrolle über neue Siedlungen“, sagte Selenskyj am Freitagabend in einer Videoansprache. „Überall bringen wir die ukrainische Flagge und den Schutz für unser Volk zurück.“

Sowohl im Donbas im Osten der Ukraine als auch im Süden des Landes dauerten die „erbitterten Kämpfe“ an. Erst am Vortag hatte Selenskyj die Rückeroberung der Kreisstadt Balaklija im Gebiet Charkiw bestätigt. Anfang Juni hatte Selenskyj noch gesagt, dass Russland etwa 125.000 Quadratkilometer der Ukraine einschließlich der Halbinsel Krim besetzt halte. Das ist etwa ein Fünftel des ukrainischen Staatsgebiets.

Stoltenberg: Krieg geht in „kritische Phase“

Nach Einschätzung von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg geht der Krieg in der Ukraine in eine „kritische Phase“. Ukrainische Streitkräfte hätten zuletzt dank der Unterstützung aus NATO-Staaten Moskaus Offensive im Donbass stoppen und Territorium zurückzuerobern können, sagte Stoltenberg am Freitag bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit US-Außenminister Anthony Blinken in Brüssel.

Blinken lobte die ukrainische Offensive und Geländegewinne im Süden und Osten des Landes als „echte Fortschritte“. Es sei noch zu früh zu sagen, wie sich die Lage entwickeln werde. Die Moral der ukrainischen Soldaten sei aber deutlich höher als die der russischen Streitkräfte. „Wir sehen jetzt Erfolge in Cherson, wir sehen einen gewissen Erfolg in Charkiw – und das ist sehr, sehr ermutigend“, sagte in diesem Zusammenhang auch US-Verteidigungsminister Lloyd Austin am Rande eines Besuchs in Prag.

Die USA wollen die Ukraine in ihrer Gegenoffensive gegen Russland in eine starke diplomatische Verhandlungsposition bringen. „Wir sehen in diesem Moment keine Anzeichen von Russland, dass es bereit ist, eine solche Diplomatie ernsthaft zu betreiben“, wie Blinken dazu sagte: „Aber wenn dieser Zeitpunkt kommt, muss die Ukraine in der bestmöglichen Position sein.“

Russische Besatzer evakuieren Isjum und Kujansk

Angesichts der ukrainischen Gegenoffensive evakuieren die russischen Besatzer eigenen Angaben zufolge weitere Orte im ostukrainischen Gebiet Charkiw. Zunächst sollen Isjum und Kupjansk geräumt werden, wie der Chef der von Russland eingesetzten Militärverwaltung, Witali Gantschew, laut der staatlichen Nachrichtenagentur TASS am Freitag sagte. Auch der Ort Welykyj Burluk stehe unter Beschuss, dort solle die Zivilbevölkerung ebenfalls an sichere Orte gebracht werden.

Lage bei AKW Saporischschja immer prekärer

Die Lage im umkämpften ukrainischen Atomkraftwerk Saporischschja wird unterdessen laut internationalen Beobachtern immer instabiler. Die Anlage habe keine externe Stromversorgung mehr für die Kühlung von Reaktorkernen und Atommüll, berichteten am Freitag Experten der Internationale Atomenergiebehörde (IAEA). Der Grund sei der Beschuss und die Zerstörung des Umspannwerkes in der nahen Stadt Enerhodar. „Die Situation ist untragbar und sie wird immer prekärer“, sagte IAEA-Chef Rafael Grossi in Wien. Er forderte erneut die Einstellung aller Kampfhandlungen und die Einrichtung einer entmilitarisierten Zone, um einen Atomunfall zu verhindern.

Der ukrainische Kraftwerksbetreiber erwäge nun die Abschaltung des letzten der sechs Reaktorblöcke dort, sagte Grossi. Da es in Enerhodar kein fließendes Wasser und keinen Strom mehr gebe, bestehe auch ein großes Risiko, dass bald nicht mehr genügend ukrainisches Personal für den sicheren Betrieb der Anlage zur Verfügung stehe.