Ukrainischer Soldat auf einem Panzer
APA/AFP/Juan Barreto
Strategisch wichtiger Knotenpunkt

Ukraine meldet Rückeroberung von Kupjansk

Mehr als ein halbes Jahr nach Beginn des russischen Angriffskriegs hat die Ukraine eigenen Angaben zufolge die strategisch wichtige Stadt Kupjansk im östlichen Gebiet Charkiw zurückerobert. Russland erklärte indessen seinen Rückzug aus zwei Städten in der Region.

Der ukrainische Inlandsgeheimdienst SBU veröffentlichte am Samstag auf Telegram Fotos, die eigene Einheiten in der bisher von Russland besetzten Kleinstadt Kupjansk zeigen sollen. „Wir werden unser Land bis auf den letzten Zentimeter befreien!“, heißt es dazu. Zuvor hatten bereits ukrainische Medien die Rückeroberung von Kupjansk gefeiert und ein Foto von Soldaten veröffentlicht, die die ukrainische Flagge halten.

Die Stadt ist wegen ihres direkten Bahnanschlusses an Russland als Verkehrsknotenpunkt wichtig für die Versorgung des gesamten russischen Truppenverbands um das südwestlich gelegene Isjum. Durch den Vorstoß der Ukrainer droht dort nun mehr als 10.000 russischen Soldaten die Einkesselung.

Moskau meldet „Umgruppierung“

Angesichts der ukrainischen Rückeroberungen meldete Russland einen Rückzug seiner Truppen aus den Städten Balaklija und Isjum. Das russische Verteidigungsministerium sprach von einer „Umgruppierung“. Ein Ministeriumssprecher, den die Nachrichtenagentur Tass zitierte, bezeichnete den Rückzug als einen weiteren Schritt der „Befreiung“ der ukrainischen Donbas-Region.

Bereits zuvor mehrten sich Hinweise, wonach ukrainische Einheiten Richtung Kupjansk vorrücken. Sollte der Ort zurückerobert werden, wäre das ein schwerer Schlag für die russischen Truppen, hieß es dazu Samstagfrüh im jüngsten Lagebericht des britischen Militärgeheimdienstes.

Die ukrainischen Speerspitzen seien mittlerweile auf enger Front bis zu 50 Kilometer weit in bisher russisch besetztes Gebiet vorgestoßen, teilte das britische Verteidigungsministerium unter Berufung auf Geheimdiensterkenntnisse weiter mit. Das deckt sich mit Angaben der Ukraine aus den vergangenen Tagen. In dem Gebiet seien nur wenige russische Truppen versammelt gewesen, hieß es weiter. „Die russischen Kräfte wurden offenbar überrascht.“

NATO: Ukraine-Krieg geht in „kritische Phase“

Nach Einschätzung von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg geht der Krieg in der Ukraine in eine „kritische Phase“. Ukrainische Streitkräfte hätten zuletzt dank der Unterstützung aus NATO-Staaten Moskaus Offensive im Donbas stoppen und Territorium zurückerobern können, sagte Stoltenberg bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit US-Außenminister Anthony Blinken in Brüssel. Die USA wollen die Ukraine in ihrer Gegenoffensive gegen Russland in eine starke diplomatische Verhandlungsposition bringen. „Wir sehen in diesem Moment keine Anzeichen von Russland, dass es bereit ist, eine solche Diplomatie ernsthaft zu betreiben“, wie Blinken dazu sagte. „Aber wenn dieser Zeitpunkt kommt, muss die Ukraine in der bestmöglichen Position sein.“

„Ukrainische Einheiten haben mehrere Orte eingenommen oder umzingelt“, so das Ministerium weiter. Russische Kräfte rund um die Stadt Isjum würden immer isolierter, zudem rückten die Ukrainer auf die Stadt Kupjansk vor. „Ihre Eroberung wäre ein erheblicher Schlag für Russland, weil hier die Versorgungslinien für die Donbass-Front verlaufen“, hieß es in London. Auch im Gebiet Cherson im Süden des Landes gingen die ukrainischen Angriffe weiter. „Die russische Defensive ist sowohl an ihrer nördlichen als auch an ihrer südlichen Flanke unter Druck“, stellte das Ministerium fest.

Selenskyj: Über 30 Orte zurückerobert

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj meldete bereits am Freitagabend die Rückeroberung von mehr als 30 Siedlungen in der ostukrainischen Region Charkiw. „Wir übernehmen nach und nach die Kontrolle über neue Siedlungen“, sagte Selenskyj in einer Videoansprache. „Überall bringen wir die ukrainische Flagge und den Schutz für unser Volk zurück.“

Sowohl im Donbas im Osten der Ukraine als auch im Süden des Landes dauerten die „erbitterten Kämpfe“ an. Erst am Vortag hatte Selenskyj die Rückeroberung der Kreisstadt Balaklija im Gebiet Charkiw bestätigt. Anfang Juni hatte Selenskyj noch gesagt, dass Russland etwa 125.000 Quadratkilometer der Ukraine einschließlich der Halbinsel Krim besetzt halte. Das ist etwa ein Fünftel des ukrainischen Staatsgebiets.

Stoltenberg: Krieg geht in „kritische Phase“

Nach Einschätzung von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg geht der Krieg in der Ukraine in eine „kritische Phase“. Ukrainische Streitkräfte hätten zuletzt dank der Unterstützung aus NATO-Staaten Moskaus Offensive im Donbass stoppen und Territorium zurückzuerobern können, sagte Stoltenberg am Freitag bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit US-Außenminister Anthony Blinken in Brüssel.

Blinken lobte die ukrainische Offensive und Geländegewinne im Süden und Osten des Landes als „echte Fortschritte“. Es sei noch zu früh zu sagen, wie sich die Lage entwickeln werde. Die Moral der ukrainischen Soldaten sei aber deutlich höher als die der russischen Streitkräfte. „Wir sehen jetzt Erfolge in Cherson, wir sehen einen gewissen Erfolg in Charkiw – und das ist sehr, sehr ermutigend“, sagte in diesem Zusammenhang auch US-Verteidigungsminister Lloyd Austin am Rande eines Besuchs in Prag.

Die USA wollen die Ukraine in ihrer Gegenoffensive gegen Russland in eine starke diplomatische Verhandlungsposition bringen. „Wir sehen in diesem Moment keine Anzeichen von Russland, dass es bereit ist, eine solche Diplomatie ernsthaft zu betreiben“, wie Blinken dazu sagte: „Aber wenn dieser Zeitpunkt kommt, muss die Ukraine in der bestmöglichen Position sein.“

Russische Besatzer evakuieren Isjum und Kujansk

Angesichts der ukrainischen Gegenoffensive evakuieren die russischen Besatzer eigenen Angaben zufolge weitere Orte im ostukrainischen Gebiet Charkiw. Zunächst sollen Isjum und Kupjansk geräumt werden, wie der Chef der von Russland eingesetzten Militärverwaltung, Witali Gantschew, laut der staatlichen Nachrichtenagentur TASS am Freitag sagte. Auch der Ort Welykyj Burluk stehe unter Beschuss, dort solle die Zivilbevölkerung ebenfalls an sichere Orte gebracht werden.

Lage bei AKW Saporischschja immer prekärer

Die Lage im umkämpften ukrainischen Atomkraftwerk Saporischschja wird unterdessen laut internationalen Beobachtern immer instabiler. Die Anlage habe keine externe Stromversorgung mehr für die Kühlung von Reaktorkernen und Atommüll, berichteten am Freitag Experten der Internationale Atomenergiebehörde (IAEA). Der Grund sei der Beschuss und die Zerstörung des Umspannwerkes in der nahen Stadt Enerhodar. „Die Situation ist untragbar und sie wird immer prekärer“, sagte IAEA-Chef Rafael Grossi in Wien. Er forderte erneut die Einstellung aller Kampfhandlungen und die Einrichtung einer entmilitarisierten Zone, um einen Atomunfall zu verhindern.

Der ukrainische Kraftwerksbetreiber erwäge nun die Abschaltung des letzten der sechs Reaktorblöcke dort, sagte Grossi. Da es in Enerhodar kein fließendes Wasser und keinen Strom mehr gebe, bestehe auch ein großes Risiko, dass bald nicht mehr genügend ukrainisches Personal für den sicheren Betrieb der Anlage zur Verfügung stehe.