Ukrainische Soldaten verladen einen russischen Panzer
Reuters/Ukrainian Armed Forces
Ukrainische Heeresleitung

Russische Soldaten in Charkiw eingekesselt

Die ukrainischen Streitkräfte haben nach Angaben der Heeresleitung seit Anfang September mehr als 3.000 Quadratkilometer russisch besetzten Gebiets zurückerobert. Nicht alle russischen Truppen haben den ukrainischen Angaben zufolge den Rückzug geschafft. „Im Raum Charkiw sind feindliche Einheiten aus dem Bestand der 3. motorisierten Schützendivision der 20. Armee von den Versorgungswegen abschnitten und in Panik“, wie der ukrainische Generalstab am Sonntag weiter mitteile.

Details zu Stellungen und dem Ausmaß der jüngsten Rückeroberungen gab der Generalstab nicht bekannt. Russische Truppen halten nach früheren Angaben etwa 125.000 Quadratkilometer in der Ukraine besetzt. Das ist ein Fünftel des Staatsgebietes einschließlich der Halbinsel Krim. Nach Angaben des Oberbefehlshabers der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, hat es zuletzt Geländegewinne um die zweitgrößte ukrainische Stadt Charkiw im Norden gegeben. Dort seien die Streitkräfte laut Saluschnyj bereits bis zu 50 Kilometer an die russische Grenze herangerückt.

Auch im Süden und Osten von Charkiw kämen die ukrainischen Streitkräfte voran, hieß es. Zuvor hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte, ukrainische Truppen hätten in den vergangenen Tagen ein Gebiet mit einer Fläche von rund 2.000 Quadratkilometern von Russland zurückerobert.

Kiew: Russen fliehen aus Teilen von Cherson

Nach ihrer Niederlage in Charkiw ziehen sich russische Truppen laut Angaben aus Kiew auch aus Teilen des südlichen Gebiets Cherson zurück. In einigen Orten hätten die Besatzer dort bereits ihre Positionen verlassen, teilte der ukrainische Generalstab am Sonntagabend mit. In der Stadt Nowa Kachowka hätten die russischen Soldaten ein Krankenhaus geräumt, um sich darin nun selbst zu verschanzen, hieß es weiter. Unabhängig überprüft werden konnten diese Angaben nicht.

Das südliche Gebiet Cherson ist seit dem Frühjahr in weiten Teilen unter russischer Kontrolle. Vor allem in der gleichnamigen Gebietshauptstadt Cherson kam es seitdem immer wieder zu Protesten und Angriffen auf die von Russland eingesetzten Besatzungsverwaltungen.

Kadyrow fordert geänderte Kriegsführung

Der Chef der russischen Teilrepublik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, kritisiert russische Verantwortliche für militärische Fehlschläge in der Ukraine. „Wenn nicht heute oder morgen Änderungen an der Durchführung der militärischen Spezialoperation vorgenommen werden, bin ich gezwungen, zur Staatsführung zu gehen, um ihr die Lage vor Ort zu erklären“, schrieb Kadyrow auf Telegram. Kadyrow, der im Auftrag der russischen Regierung Tschetschenien mit harter Hand regiert, zählt zu den wichtigen Unterstützern von Präsident Wladimir Putin.

Selenskyj: „Dieser Winter ist der Wendepunkt“

Präsident Selenskyj sagte am späten Samstagabend: „Ich glaube, dieser Winter ist der Wendepunkt, und er kann zur schnellen Befreiung der Ukraine führen.“ „Wir sehen, wie sie in einige Richtungen fliehen“, sagte er mit Blick auf die russischen Streitkräfte. „Wenn wir noch ein bisschen stärker mit Waffen wären, würden wir noch schneller vorankommen.“

Laut dem jüngsten ukrainischen Lagebericht setzt die Armee ihre Rückeroberung russisch besetzter Gebiet im Osten der Ukraine fort. „Die Befreiung von Ortschaften in den Distrikten Kupjansk und Isjum ist im Gang“, wie die ukrainischen Streitkräfte weiter mitteilten.

Russland hatte aufgrund der ukrainischen Offensive zunächst die Verlegung von Kräften in die Region Charkiw angekündigt, am Samstag dann aber über einen Truppenabzug in die weiter südlich gelegene Region Donezk gesprochen. Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums vom Sonntag sei die Region Charkiw weiter Schauplatz von Gefechten. Die Rede ist von präzisen Angriffen gegen ukrainische Stellungen. Die Angriffe erfolgten den Ministeriumsangaben zufolge durch Luftlandetruppen, Raketen und Artillerie.

Großteil des Gebiets Charkiw geräumt

Gleichzeitig hat Russland einen Großteil des vor wenigen Tagen noch gehaltenen Gebiets in der Region Charkiw geräumt. Auf am Sonntag vom Verteidigungsministerium in Moskau gezeigten Karten räumten die russischen Einheiten den Norden des Gebiets an der Grenze zu Russland komplett und zogen sich auf eine Linie hinter die Flüsse Oskil und Siwerskyj Donez zurück. Kommentiert wurde der Rückzug nicht gesondert. Zuvor war von einer „Umgruppierung“ zur Verstärkung der Einheiten im Donezker Gebiet die Rede. Anfang der Woche hatte die russische Armee noch etwa ein Drittel des Charkiwer Gebiets kontrolliert.

GB: „Weiterhin erhebliche Fortschritte“

Auch laut dem jüngsten Bericht des britischen Militärgeheimdienstes dauern die Kämpfe auch nach dem Rückzug russischer Truppen aus mehreren besetzten ukrainischen Ortschaften weiter an. Russland habe Einheiten aus dem Gebiet zurückgezogen, „aber es wird weiter gekämpft im Umkreis der strategisch wichtigen Städte Kupjansk und Isjum“. Den britischen Angaben zufolge befindet sich die Ukraine aber offenbar weiterhin auf dem Vormarsch.

„In den vergangenen 24 Stunden haben ukrainische Kräfte weiterhin erhebliche Fortschritte in der Charkiw-Region gemacht“, wie Großbritanniens Verteidigungsministerium via Twitter mitteilte.

Das britische Verteidigungsministerium veröffentlicht seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine Ende Februar unter Berufung auf Geheimdienstinformationen täglich Informationen zum Kriegsverlauf. Damit will die britische Regierung sowohl der russischen Darstellung entgegentreten als auch Verbündete bei der Stange halten. Moskau wirft London eine gezielte Desinformationskampagne vor.

„Größter Erfolg seit Sieg bei Schlacht vor Kiew“

Auch das Washingtoner Institute for the Study of War (ISW) verweist in seiner jüngsten Analyse auf die ukrainischen Geländegewinne. Innerhalb von fünf Tagen hätten ukrainische Soldaten mehr Gelände zurückgewonnen, als die russischen Truppen insgesamt seit April besetzt haben. „Die Befreiung von Isjum wird der größte militärische Erfolg der Ukraine seit dem Sieg in der Schlacht vor Kiew im März“, urteilte ISW in seiner Lageanalyse am Sonntag. Damit sei der von Russland geplante Vormarsch auf den Donbas von Norden her gescheitert, meinten die Experten.

Der Thinktank in Washington veröffentlicht seit Kriegsbeginn regelmäßig Analysen zum Kampfgeschehen in der Ukraine. Der Sonntag ist der 200. Tag des russischen Angriffskriegs.

Lawrow: Russland lehnt Verhandlungen nicht ab

Russland deutet indes eine Neuauflage von Gesprächen an. „Russland lehnt Verhandlungen mit der Ukraine nicht ab, doch je länger der Prozess hinausgezögert wird, desto schwerer wird es, sich zu einigen“, sagte Außenminister Sergej Lawrow am Sonntag im Staatsfernsehen. Die Verhandlungen, die kurz nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen das Nachbarland begannen, sind seit Monaten ausgesetzt.

Offiziell macht Moskau für den Verhandlungsstopp Kiew verantwortlich. Russland stellt für einen Frieden allerdings harte Bedingungen. So soll die Ukraine nicht nur auf einen NATO-Beitritt verzichten, sondern auch hohen Gebietsverlusten zustimmen. So hat Moskau die Abtretung der Gebiete Donezk und Luhansk gefordert. Weitere offizielle Forderungen des Kremls bestehen in einer „Entmilitarisierung“ und einer „Entnazifizierung“ der Ukraine. Kiew lehnt sämtliche Forderungen ab. US-Angaben zufolge ist es für die Ukraine wichtig, sich vor etwaigen Verhandlungen auf militärischem Weg eine möglichst starke Position zu verschaffen.