Ein Zerstörtes Gebäude spiegelt sich in einer Scheibe mit Einschusslöchern
Reuters
Ostukraine

Strom fiel nach Beschuss großflächig aus

Nach dem Teilrückzug der eigenen Truppen hat Russland ukrainischen Angaben zufolge die kritische Infrastruktur des Nachbarlandes beschossen. In mehreren Regionen seien Orte ohne Strom, meldeten ukrainische Medien am Sonntagabend. Ein Racheakt Russlands, wie die ukrainische Seite sagt.

Über Probleme bei der Strom- sowie bei der Wasserversorgung berichteten unter anderen Politiker im ostukrainischen Gebiet Charkiw, aus dem russische Einheiten erst kurz zuvor abgezogen waren. „Das ist eine abscheuliche und zynische Rache des russischen Aggressors für die Erfolge unserer Armee“, schrieb der Bürgermeister der gleichnamigen Gebietshauptstadt Charkiw, Ihor Teretschow, auf Telegram.

Die ostukrainischen Regionen Charkiw und Donezk seien komplett ohne Strom, so der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj auf Twitter. „Russische Terroristen bleiben Terroristen“, schrieb er dazu. Sein Berater Mytschajlo Podoljak teilte mit, in Charkiw sei eines der größten Wärmekraftwerke des Landes getroffen worden.

Meldungen von Stromausfällen kamen auch aus den Gebieten Sumy, Dnipropetrowsk, Poltawa, Saporischschja und Odessa. Zwischenzeitlich gab es in der gesamten Ukraine Luftalarm. Teils berichteten Anwohnerinnen und Anwohner in sozialen Netzwerken von Explosionsgeräuschen.

Russen verließen Charkiw

Die ukrainische Armee hatte in den vergangenen Tagen zahlreiche Ortschaften und Städte im Osten der Ukraine von den russischen Truppen zurückerobert. Am Samstag hatte die russische Armee überraschend bekanntgegeben, ihre Streitkräfte aus Teilen der östlichen Region Charkiw weiter südlich in die Region Donezk „umzugruppieren“.

Eine am Sonntag von Moskau veröffentlichte Karte zeigte einen weitgehenden Rückzug russischer Truppen aus dem Gebiet. In Kiew wurde diese Nachricht mit Euphorie aufgenommen – und die Bereitschaft bekräftigt, sich nun auch weitere besetzte Gebiete zurückzuholen.

Selenskyj: Isjum zurückerobert

Selenskyj bezeichnete die Gegenoffensive am Sonntag als möglichen Durchbruch in dem monatelangen Krieg. Im Winter könnten die ukrainischen Streitkräfte weitere Geländegewinne erzielen, falls Kiew mehr leistungsstarke Waffen erhalte, so Selenskyj. „Wir werden nicht still stehen“, sagte er in einem Interview mit dem Sender CNN.

Selenskyj sagte in seiner täglichen Videobotschaft am Sonntag auch, die strategisch wichtige Stadt Isjum im Osten sei zurückerobert worden. Die Armee habe „Hunderte unserer Städte und Dörfer befreit“, zuletzt die Städte Isjum, Balaklija und Kupjansk, so Selenskyj.

Kiew: Russen fliehen aus Teilen von Cherson

Die russischen Truppen zogen sich laut Angaben aus Kiew auch aus Teilen des südlichen Gebiets Cherson zurück. In einigen Orten hätten die Besatzer dort bereits ihre Positionen verlassen, teilte der ukrainische Generalstab am Sonntagabend mit. In der Stadt Nowa Katschowka hätten die russischen Soldaten ein Krankenhaus geräumt, um sich darin nun selbst zu verschanzen, hieß es weiter. Unabhängig überprüft werden konnten diese Angaben nicht. Von russischer Seite gab es zunächst keine Reaktion.

Das südliche Gebiet Cherson ist seit dem Frühjahr in weiten Teilen unter russischer Kontrolle. Vor allem in der gleichnamigen Gebietshauptstadt Cherson kam es seitdem immer wieder zu Protesten und Angriffen auf die von Russland eingesetzten Besatzungsverwaltungen.

Kadyrow fordert geänderte Kriegsführung

Der Chef der russischen Teilrepublik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, kritisiert russische Verantwortliche für militärische Fehlschläge in der Ukraine. „Wenn nicht heute oder morgen Änderungen an der Durchführung der militärischen Spezialoperation vorgenommen werden, bin ich gezwungen, zur Staatsführung zu gehen, um ihr die Lage vor Ort zu erklären“, schrieb Kadyrow auf Telegram. Kadyrow, der im Auftrag der russischen Regierung Tschetschenien mit harter Hand regiert, zählt zu den wichtigen Unterstützern von Präsident Wladimir Putin.

Ukraine verzeichnet Gebietsgewinne

Mehr als 3.000 Quadratkilometer will die Ukraine bei ihrer Offensive im Osten in nur wenigen Tagen von den Russen zurückerobert haben. Maßgeblich dazu beigetragen hätten westliche Waffenlieferungen. Handelt es sich um einen Wendepunkt im Krieg?

Lawrow: Russland lehnt Verhandlungen nicht ab

Russland deutet indes eine Neuauflage von Gesprächen an. „Russland lehnt Verhandlungen mit der Ukraine nicht ab, doch je länger der Prozess hinausgezögert wird, desto schwerer wird es, sich zu einigen“, sagte Außenminister Sergej Lawrow am Sonntag im Staatsfernsehen. Die Verhandlungen, die kurz nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen das Nachbarland begannen, sind seit Monaten ausgesetzt.

Offiziell macht Moskau für den Verhandlungsstopp Kiew verantwortlich. Russland stellt für einen Frieden allerdings harte Bedingungen. So soll die Ukraine nicht nur auf einen NATO-Beitritt verzichten, sondern auch hohen Gebietsverlusten zustimmen. So hat Moskau die Abtretung der Gebiete Donezk und Luhansk gefordert. Weitere offizielle Forderungen des Kreml bestehen in einer „Entmilitarisierung“ und einer „Entnazifizierung“ der Ukraine. Kiew lehnt sämtliche Forderungen ab. US-Angaben zufolge ist es für die Ukraine wichtig, sich vor etwaigen Verhandlungen auf militärischem Weg eine möglichst starke Position zu verschaffen.

„Größter Erfolg seit Sieg bei Schlacht vor Kiew“

Das Washingtoner Institute for the Study of War (ISW) verweist in seiner jüngsten Analyse auf die ukrainischen Geländegewinne. Innerhalb von fünf Tagen hätten ukrainische Soldaten mehr Gelände zurückgewonnen, als die russischen Truppen insgesamt seit April besetzt haben. „Die Befreiung von Isjum wird der größte militärische Erfolg der Ukraine seit dem Sieg in der Schlacht vor Kiew im März“, urteilte ISW in seiner Lageanalyse am Sonntag. Damit sei der von Russland geplante Vormarsch auf den Donbas von Norden her gescheitert, meinten die Experten. Der Thinktank in Washington veröffentlicht seit Kriegsbeginn regelmäßig Analysen zum Kampfgeschehen in der Ukraine. Der Sonntag ist der 200. Tag des russischen Angriffskrieges.