Javier Marias mit Sonnenbrille
Friedrich, Brigitte / SZ-Photo / picturedesk.com
Javier Marias

Spanien verliert seinen „König“

Wenn gerade die Queen gestorben ist, so ist seit Sonntagnachmittag auch Spaniens „König“ tot. Gemeint sind nicht der abgetretene Juan Carlos oder Felipe, gemeint ist der streitbarste Autor der spanischen Gegenwartsliteratur, Javier Marias. „El rey ha muerto“, der König ist gestorben, schrieb „El Mundo“. Seit Mitte August wusste man um eine Lungenbehandlung, jetzt wurde offiziell, dass Marias den Kampf gegen die Folgen einer Coronavirus-Infektion verloren hat. Verloren geht der Welt einer ihrer größten Literaten, Real Madrid einer der größten Fans.

Wenn Stil so etwas wie eine verlorene Kategorie auf dem globalisierten Buchmarkt geworden ist, dann hat es noch Bewahrer des Stils gegeben. Marias, der ewige Nobelpreiskandidat und Staatspreisträger für Europäische Literatur 2011, war einer dieser Autoren, mit Werken, die er nie an eine Form von Geschmackskategorie angepasst hat, immer verpflichtet dem Fortschreiben des großen Romans der Moderne. Wer wie Marias als Sohn eines Philosophen, Franco-Kritikers und Anhängers der Republik als Spanier hauptsächlich fern von Spanien aufgewachsen ist, etwa auch im akademischen Raum US-amerikanischer Eliteunis, der hat zwei Richtungsentscheidungen für sein Leben mitbekommen.

Er wird, ja muss sich laufend dem Prozess, wie sich Vergangenheit in die Gegenwart schiebt, stellen – und er wird sich immer als Teil einer Elite und eines zelebrierten Außenseitertums sehen. Marias war arrogant, vielleicht auch größenwahnsinnig. Streitbar war er immer, wie man noch vor Kurzem, zu seinem 70. Geburtstag, sehen konnte. „Wir leben in einer Zeit voller berühmter Dummköpfe“, schrieb er in seiner Kolumne in „El Pais“.

Cover von „El Pais“ am Montag
El Pais
Cover von „El Pais“ am Montag

„Mein Herz so weiß“ – ein Paukenschlag

Mitte der 1990er Jahre war man im deutschsprachige Raum auf Marias aufmerksam geworden. „Mein Herz so weiß“ schien atemberaubend, von der Geschichtenkonstruktion und mehr noch von der Art, wie erzählt wurde. Das „Literarische Quartett“ und ein vor Begeisterung beinahe fassungsloser Marcel Reich-Ranicki hoben den Roman in den Himmel, was für den Literaturpapst schon insofern eine Sensation war, als er, der alte Thomas-Mann-Fan, ein durch und durch modernistisches Buch lobte.

Das Werk darf man in der Aufarbeitung eines dunklen Familiengeheimnisses durchaus mit einem Pedro-Almodovar-Film vergleichen: Eine junge Frau erhebt sich bei einer Hochzeit vom Tisch, geht ins Bad und erschießt sich. Der Witwer wird die Schwester heiraten und mit ihr ein Kind haben, aus der der Ich-Erzähler des Buches erwächst, der sich auf die Spurensuche nach einem dunklen Geheimnis macht.

„Niemand denkt daran, eine Tote in den Armen zu halten“

„Niemand denkt je daran, dass er irgendwann eine Tote in den Armen halten könnte und dass er nicht mehr ihr Gesicht sehen wird, an dessen Namen er sich erinnert. Niemand denkt je daran, dass jemand im unpassendsten Augenblick sterben könnte, obwohl dies die ganze Zeit passiert, und wir glauben, dass niemand, dem dies nicht bestimmt ist, in unserem Beisein wird sterben müssen“, heißt es im Roman „Morgen in der Schlacht denk an mich“, den man in Spanien bisher als sein Meisterwerk ansieht. Wenn der Philosoph Georg Simmel von der „Lebensimmanenz des Todes“ sprach, dann verlieh Marias der Bedeutung, die der Tod über das Leben und den Menschen darin hat, eine literarische Gestalt.

„Und wie wenig bleibt von jedem einzelnen Menschen in der Zeit, die so unnütz ist wie glatter, rutschiger Schnee", liest man in dem Werk: „Von wie wenig hat man Ahnung, und von diesem Wenigen wird so vieles verschwiegen, und von dem, was nicht verschwiegen wird, bleibt später nur ein winziger Teil in Erinnerung und nur für kurze Zeit: Unterdessen streben wir langsam unserer Auflösung entgegen, nur um auf der Rück- oder Kehrseite der Zeit zu wandeln, wo man nicht weiter denken und auch nicht weiter Abschied nehmen kann: ‚Leb wohl, Gelächter, und leb wohl, Schmach, ich werde euch nicht wiedersehen, und ihr mich auch nicht. Und leb wohl, Lebensglut, lebt wohl, Erinnerungen.‘“

Zeichnung von Marias des Real Stürmers Destafano
RTVE.es
Real Madrid als eigentliche Religion: Marias-Kinderzeichnung des Real-Stürmers Alfredo di Stefano

Kommentar und Bewusstseinsstrom, aber auch das Bauen von sehr klaren Geschichten, das sind die Stärken von Marias, die ihn zu einem Ausnahmeromancier gemacht haben.

„Immer weniger Ahnung, wie Romane gemacht werden“

Je älter er werde, verstehe er „immer weniger, wie Romane gemacht werden“, sagte Marias vor einem Jahr. Während das leere weiße Blatt ihm Unbehagen bereitete, verursachte das fertige Werk dem Literaturhistoriker und Hochschullehrer oft Verdruss: „Alle meine Romane erscheinen mir unmittelbar nach der Vollendung schlecht. Ich würde oft am liebsten alle Seiten in den Papierkorb werfen.“ Computer verabscheute er – der Kettenraucher klopfte seine Werke weiter lieber in die Schreibmaschine.

Spanische Schriftsteller Javier Marias
Reuters/Andrea Comas
Mit dem Tod von Javier Marias verliert Europa einen Eigensinnigen seiner Literatur

Im Literaturbetrieb blieb er, der schon mit elf damals in Paris zu schreiben begonnen hatte, ein Außenseiter. Gerne lud man ihn zu Diskussionsveranstaltungen, bei denen er nach Belieben auszuteilen wusste. Auszeichnungen staatlicher Stellen in Spanien lehnte er ab – und nahm auch keine Vorauszahlungen an: „Ich würde meine Freiheit verlieren. Und ein Buch, das nicht gelungen ist, nicht in die Schublade stecken können.“

Sein letztes Buch, der im Frühjahr 2021 in Spanien veröffentlichte Spionageroman „Tomas Nevinson“, gilt als bestes Werk des Autors. In zwei Wochen soll es bei Fischer auf Deutsch erscheinen, rechtzeitig zur Frankfurter Buchmesse. Marias’ 16 Romane wurden in mehr als 35 Sprachen übersetzt. Zuletzt erschien auf Deutsch sein Roman „Berta Islas“.

Umwege in die Heimat

Marias war das zweitjüngste von fünf Kindern von Julian Marias. Der bekannte Philosoph (1914–2005) saß als Gegner der Franco-Diktatur lange hinter Gittern und musste Mitte der 1950er Jahre für einige Zeit in die USA auswandern. Javier Marias wuchs zweisprachig auf. Sein erstes Geld verdiente er als Kind nicht nur mit Kurzauftritten in Filmen seines Onkels Jesus Franco, sondern auch als Übersetzer.

In den 1980er Jahren unterrichtete er in Oxford, Erlebnisse zum College „All Souls“ hielt er im Roman „Alle Seelen oder die Irren von Oxford“ (1989) fest.

Marias beim Signieren eines Romans
RTVE.es
„Schreiben ist im Grunde abnormal“: Linkshänder Marias beim Signieren eines Buches

„Schreiben ist im Grunde anormal“

„Schreiben ist im Grunde anormal und komisch“, hielt der mit den eigenen Texten am ehesten Verunsicherte fest. In seinem Roman „Die sterblich Verliebten“ (2011) konstruiert er eine Verlagsangestellte, die durch den täglichen Kontakt mit Autoren zu einem Schluss kommt: „Wie lästig, blöd und eingebildet wir Schriftsteller sind.“

Am 20. September wäre Marias, Mitglied der Königlichen Spanischen Akademie und König des fiktiven Literaturreichs Redonda, 71 Jahre alt geworden. „Ich wurde nach alter Schule erzogen und hätte nie gedacht, dass man mir eines Tages auftragen würde, eine Frau umzubringen.“ Mit diesem Satz beginnt sein letzter Roman. Der Tod mit allen Widersprüchen für das Leben blieb der „Gestalter“ seiner Texte.