Jean-Luc Godard, 1971
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Bilderstürmer des Kinos

Jean-Luc Godard ist tot

Von allen eigenwilligen Kinoregisseuren war er vielleicht der eigenwilligste. Seit Dienstag weiß man: Frankreich hat einen seiner größten Gestalter der Bewegtbilder verloren. Jean-Luc Godard, der Mann mit dem unverkennbaren Look im Aussehen und beim Film, ist tot. „Außer Atem“, „Die Verachtung“ und „Weekend“ sind Klassiker des Kinos geworden.

Wenn es so etwas gibt wie einen gemeinsamen Beitrag der 1960er Jahre, dann ist es nicht weniger als die Neuausrichtung des Sehens auf dem Terrain von Kunst, Literatur – und vor allem Film. Einer, der unsere Gewohnheiten komplett auf die Probe stellte, war Godard. Im Alter von 91 Jahren starb er in Paris. „Wir haben einen nationalen Schatz verloren“, sagte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in einer ersten Reaktion.

Regisseur Jean-Luc Godard gestorben

Von allen eigenwilligen Kinoregisseuren war er vielleicht der eigenwilligste. Seit Dienstag weiß man: Frankreich hat einen seiner größten Gestalter der Bewegtbilder verloren. Jean-Luc Godard, der Mann mit dem unverkennbaren Look im Aussehen und beim Film, ist tot. „Außer Atem“, „Die Verachtung“ und „Weekend“ sind Klassiker des Kinos geworden.

Statt wie üblich im Studio zu drehen, fing Godard die Cafes und Straßen in Paris mit seiner Handkamera ein, vor der sich Jean-Paul Belmondo frei bewegte. Seine Schnitte folgten weder Regeln noch einem Rhythmus. Mit „Außer Atem“ mit Jean Seberg und Belmondo schuf Godard ein Meisterwerk, das 1960 die Filmsprache revolutionierte. In der Folge experimentierte der französisch-schweizerische Altmeister unermüdlich mit Form, Inhalt und den Sehgewohnheiten der Zuschauer – bis hin zur kompletten Rätselhaftigkeit.

Jean Luc Goddard
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Ein Meister der Unnahbarkeit

Mood statt Geschichten

Godard gehörte zu den bedeutendsten und eigenwilligsten Regisseuren Frankreichs. Während seine Gangstergeschichte „Außer Atem“ und „Die Verachtung“ über einen Drehbuchautor mit Brigitte Bardot und Michel Piccoli noch Handlungen im klassischen Sinn besaßen, brach er ab Mitte der 1960er Jahre in Filmen wie „Weekend“ und „Die Chinesin“ immer häufiger die Erzählstrukturen auf. Seine Filme wurden fragmentarischer, Bilder und Szenen verloren ihren inhaltlichen und zeitlichen Bezug zueinander.

Seine Phase der totalen Abkehr von gängigen Gestaltungsformen läutete er mit „Die fröhliche Wissenschaft“ ein. In dem gestalterischen und gedanklichen Kinoexperiment trafen einander Emile Rousseau, ein Nachfahre des französischen Philosophen Jean-Jacques Rousseau, und die Tochter eines ermordeten kongolesischen Freiheitskämpfers. Sie diskutierten über die Unterdrückung der Gesellschaft und den Sinn von Bildern und Worten. Der Film wurde in der Zeit kurz vor den Studentenunruhen in Frankreich im Mai 1968 gedreht. Nach 1967 sprach Godard auch nicht mehr von Filmen, sondern von Bildern und Tönen.

Brigitte Bardot und Michel Piccoli im Film „Die Verachtung“, 1963
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Suche nach ungewöhnlichen Settings: Brigitte Bardot und Michel Piccoli auf dem Dach der Villa Malaparte auf Capri

„Adieu au langage“

In seinem Spätwerk setzte Godard radikaler denn je sein Streben nach formaler und stilistischer Freiheit fort. So auch in seinem letzten Werk „Bildbuch“, einem Kaleidoskop von Bildern und Filmausschnitten, die mit Godards Kommentaren, teilweise auch mit einer kakophonen Tonspur unterlegt waren.

Godard sprach dabei Themen wie Krieg und Kriegsverbrechen an und zeigte unter anderem Morde der Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Während in den vorherigen Collagen „Film socialisme“ und „Adieu au langage“ noch Protagonisten vorkamen, verzichtete der Altmeister in seinem Werk „Bildbuch“, für das er 2018 in Cannes mit einer Sonder-Palme ausgezeichnet wurde, ganz auf handelnde Personen.

Godards Filme sind Manifeste eines intellektuellen Kinos, in denen es die Geschichte und die Reflexion über die Geschichte gibt, die Erzählung und die Infragestellung der Erzählung. Und dazu gehört die Frage nach Bild und Sprache und ihrer Beziehung zueinander. Godard lehnte die Idee ab, dass Sprache und Wörter Kopien der Realität sind.

Ein Pendler zwischen Frankreich und der Schweiz

Godard wurde am 3. Dezember 1930 in Paris in eine protestantische bürgerliche Familie geboren, die in Frankreich und der Schweiz lebte. Nach dem Schulbesuch in Nyon im Schweizer Kanton Waadt ging er nach der Scheidung seiner Eltern zurück nach Paris, wo er Ende der 1940er Jahre die Nouvelle-Vague-Mitbegründer Francois Truffaut, Jacques Rivette und Eric Rohmer kennenlernte. Zusammen mit ihnen rief er die kritische Filmzeitschrift „Cahiers du Cinema“ ins Leben.

Sein Charakter war ebenso schwer durchschaubar wie sein Werk. Mehrere Biografen haben sich mit seiner Person auseinandergesetzt, zuletzt Antoine de Baecque. Der Nouvelle-Vague-Spezialist und Filmkritiker beschreibt Godard als geborenen Provokateur: distanziert, brillant, lustig, unerträglich und giftig, besonders Freunden und Verwandten gegenüber. Godard war zweimal verheiratet. Beide Ehefrauen, Anna Karina und Anne Wiazemsky, spielten in mehreren seiner Filme mit.

Filmszene aus „Eine verheiratete Frau“
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Filmszenen als Ikonen. Hier „Eine verheiratete Frau“, 1964.

Zurückgezogen am Genfer See

Seit Anfang der 80er Jahre lebte Godard zurückgezogen in der Schweiz, in Rolle am Genfersee. Nur selten zeigte er sich in der Öffentlichkeit, und wenn, dann oft überraschend wie in Cannes, wo er seine Pressekonferenz zu „Bildbuch“ via FaceTime abhielt.

Der Altmeister der Nouvelle Vague verlangte von seinen Zuschauern, dass sie mitdenken, sich konzentrieren, weder nach logischen noch nach zeitlichen Bezügen suchen. Godard wollte die Wahrnehmung des Films infrage stellen und eine Analyse der eigenen, subjektiven Wahrnehmungsweise in den Mittelpunkt rücken. Oft war es aber die Trademark Godard, die die letzten Werke zusammenhielt. Oder auch eine eingeschworene Publikumsgemeinde.

Bourdieu und der Brief von Godard

Als Pierre Carles den Dokumentarfilm „Pierre Bourdieu: Soziologie ist ein Kampfsport“ drehte, kam während des Drehs ein Postbote in Bourdieus Büro am College de France. Der Bote reichte Bourdieu einen mittelgroßen Umschlag und erklärte: „Ein Brief von Godard.“ Bourdieu war überrascht, der Filmemacher fragte aus dem Off „Jean-Luc Godard?“ „Ja“, sagte Bourdieu, der die drei Seiten des Briefes überflog, um schließlich festzustellen: „Ich verstehe es nicht.“ Nachsatz Bourdieu: „Ich bin kein Dichter.“

Wie sinnlich die Nouvelle Vague auch sein konnte, das stellte einer seiner späten Filme, „Nouvelle Vague“, 1990 aus. Alain Delon und Domiziana Giordano kommen darin der Erkenntnis, dass die Liebe nun einmal ein Rätsel ist, ein Stück weit, vor allem aber sehr sinnlich näher.