So soll es einer ukrainischen Einheit gelungen sein, in der Region Charkiw bereits so viel russische Ausrüstung einschließlich Panzer und Munition zu erbeuten, dass andere Einheiten versuchten, damit auch ihre eigene Einheit aufzurüsten bzw. die Lücken aufzufüllen – quasi ein Tauschhandel unter den ukrainischen Einheiten. Die „New York Times“ bezieht sich bei diesen Informationen auf einen nicht namentlich genannten Soldaten, der laut der Zeitung mit der Lage an der neu errichteten Front in der Region Charkiw vertraut ist.
Die britische BBC veröffentlichte unterdessen ein Video. Es zeige wohl zurückgelassene russische Panzer und anderes Kriegsgerät, wie es offenbar von der ukrainischen Armee begutachtet werde, heißt es. Über Ort und Zeitpunkt der Videoaufnahme machte die BBC keine Angaben.

Doppelter Nutzen
Die erbeuteten Waffen sind für die Ukraine von enormem doppeltem Nutzen. Einerseits fehlen sie der russischen Armee und diese muss sie ersetzen, andererseits werden die Waffen wahrscheinlich wieder ihren Weg an die Front finden – auf der ukrainischen Seite, so die „New York Times“ weiter. Mit den teils moderneren russischen Waffen werden die abgenutzten, noch aus der Sowjetzeit stammenden ersetzt, heißt es weiter.
Laut Michael Kofman, Chef der Russland-Abteilung des militärnahen US-Thintanks Center for Naval Analyses (CNA), gaben die russischen Streitkräfte bei ihrem Rückzug „viel“ an Militärgerät auf. Das habe gepaart mit „Problemen mit der Anzahl der Soldaten und der örtlichen Verfügbarkeit von Streitkräften“ die Sorgen Russlands nur noch verstärkt, zitierte die „NYT“ den Experten.

Weiter abhängig von Militärhilfen
Doch für die Ukraine weiter wichtig sind Militärhilfen, allen voran aus den USA. Die USA liefern weitere Waffen an die Ukraine, zuletzt etwa im Wert von 675 Millionen Dollar (rund 680 Mio. Euro). Das gab Verteidigungsminister Lloyd Austin am Donnerstag beim Treffen der Ukraine-Kontaktgruppe im deutschen Ramstein bekannt. Seit April habe Washington Waffen im Gesamtvolumen von 6,3 Mrd. Dollar bereitgestellt.
Die militärische Unterstützung der Verbündeten für die Ukraine zahle sich aus, so Austin. „Wir sehen den nachweisbaren Erfolg unserer Bemühungen auf dem Schlachtfeld.“ Er betonte, dass die Ukraine Unterstützung über eine „lange Distanz“ („long haul“) brauche, das Land habe einen „harten Weg vor sich“. Man könne den Erfolg der gemeinsamen Bemühungen aber bereits auf dem Schlachtfeld sehen.

US-Präsident Joe Biden hatte erst Ende August Unterstützung für die Ukraine im Umfang von knapp drei Milliarden Dollar angekündigt. Damit könne Kiew Luftabwehrsysteme, Artilleriesysteme und Munition, Drohnen und Radargeräte erwerben, „um sich langfristig verteidigen zu können“.
Experte: Heimreise statt Neuformierung
Auch um die Moral der russischen Truppen in der Ukraine steht es offenbar nicht gut: Laut Angaben eines hohen Offiziers im US-Verteidigungsministerium, der namentlich nicht genannt werden wollte, in der „New York Times“ sind russische Soldaten nach Hause zurückgekehrt, statt sich anderswo in der Ukraine wie angeordnet neu zu formieren.
Viele der russischen Soldaten, die sich auf dem Rückzug aus dem Großraum Charkiw befinden, haben nach Einschätzung der US-Armee die Ukraine verlassen. Große Teile dieser Truppen hätten die Grenze überquert und seien nach Russland zurückgekehrt, sagte auch ein hochrangiger US-Militärvertreter. Unter dem Druck ukrainischer Gegenoffensiven wurden zuletzt russische Truppen weitgehend aus dem Gebiet Charkiw im Osten abgezogen. Offiziell begründete Moskau den Rückzug mit einer strategischen „Umgruppierung“ der eigenen Einheiten.

Blinken: Zu früh, um Ergebnis vorherzusehen
US-Außenminister Antony Blinken hatte in der Nacht auf Montag von „bedeutenden Fortschritten“ der ukrainischen Gegenoffensive vor allem im Nordosten des Landes gesprochen. Diese Fortschritte seien vor allem „ein Ergebnis des außerordentlichen Mutes und der Widerstandsfähigkeit der ukrainischen Streitkräfte und des ukrainischen Volkes“. Es sei aber zu früh, um ein genaues Ergebnis der Gegenoffensive vorherzusehen.
Russland verfüge weiterhin über „beträchtliche Kräfte“ in der Ukraine sowie Ausrüstung, Waffen und Munition, sagte Blinken. Russland setze diese nicht nur gegen ukrainische Streitkräfte, sondern auch gegen Zivilisten und zivile Infrastruktur ein.
Die Ukraine hat nach Angaben von Selenskyj bei ihrer Gegenoffensive seit Anfang September 6.000 Quadratkilometer zuvor russisch besetzter Gebiete zurückerobert. Die Soldaten hätten diese Fläche im Süden und im Osten „befreit“ und würden „weiter voranschreiten“, sagte Selenskyj am Montag in seiner abendlichen Videoansprache.
London: Russische Armee geschwächt
Nach Einschätzung britischer Geheimdienste sind führende Einheiten der russischen Armee durch den Angriffskrieg in der Ukraine enorm geschwächt. Insbesondere in der Anfangsphase des Krieges habe es schwere Verluste gegeben, von denen sich die Truppen nicht erholt hätten, hieß es am Dienstag im Kurzbericht des britischen Verteidigungsministeriums.
Betroffen sei etwa die 1. Gardepanzerarmee. Teile dieser Einheit, die zu den prestigeträchtigsten des russischen Militärs gehöre, hätten sich in der vergangenen Woche aus der Region Charkiw zurückgezogen. Im Fall eines Krieges gegen die NATO sei vorgesehen, dass die 1. Gardepanzerarmee eine führende Rolle übernehme. Durch die Verluste sei die konventionelle Kampfstärke Russlands gegen die NATO jedoch deutlich geschwächt. Es werde Jahre dauern, um diese wieder aufzubauen, hieß es von den Briten.
Das britische Verteidigungsministerium veröffentlicht seit Beginn des russischen Angriffskriegs Ende Februar jeden Tag Informationen zum Kriegsverlauf. Moskau wirft London eine gezielte Desinformationskampagne vor.