Armenischer Soldat nahe der Nagorno-Karabakh Region
Reuters/Artem Mikryukov
Bergkarabach

Eskalation im Schatten des Ukraine-Krieges

Mit den schwersten Kämpfen seit Langem und Dutzenden Toten droht der jahrzehntealte Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Region Bergkarabach erneut zu eskalieren. Dass es ausgerechnet jetzt zu neuen Kämpfen kommt, ist wohl kein Zufall. Russland gilt als Schutzmacht Armeniens, hat aber in der Ukraine gerade ganz andere Probleme. Das scheint Aserbaidschan nutzen zu wollen. Der Konflikt ist hochkomplex, auch für Russland.

Bei den wiederaufgeflammten Kämpfen zwischen Aserbaidschan und Armenien im Kaukasus wurden nach Militärangaben aus Baku 50 aserbaidschanische Soldaten getötet. Wie das Verteidigungsministerium am Dienstag mitteilte, gehörten 42 getötete Soldaten der Armee und acht den Grenztruppen an. Armenien meldete ähnlich hohe Verlustzahlen durch die in der Nacht auf Dienstag ausgebrochenen Gefechte.

Die beiden ehemaligen Sowjetrepubliken streiten seit Jahrzehnten um das mehrheitlich von Armeniern bewohnte Kaukasus-Gebiet Bergkarabach. Völkerrechtlich gehört es zu Aserbaidschan, von dem es sich aber mit dem Zerfall der Sowjetunion als unabhängige Republik losgesagt hatte. Aus dem Konflikt um die gerade einmal 4.400 Quadratkilometer wurde ein dreijähriger Krieg mit bis 30.000 Toten und über einer Million Geflüchteten. Gleichzeitig prägte der zunächst regionale Konflikt beide Länder und brannte sich ins kollektive Gedächtnis ein.

Kämpfe im Kaukasus: UNO „äußert besorgt“

Zwischen Aserbaidschan und Armenien sind wieder schwere Kämpfe im Kaukasus ausgebrochen. UNO-Generalsekretär Antonio Guterres rief zur Entspannung der Lage auf. „Er fordert die Seiten auf, unverzüglich Schritte zur Deeskalation der Spannungen zu unternehmen, maximale Zurückhaltung zu üben und alle noch offenen Probleme durch Dialog und innerhalb bestehender Formate zu lösen“, teilte UNO-Sprecher Stephane Dujarric mit. Guterres sei „äußerst besorgt“ über die Entwicklung.

Armenien kontrollierte dann ab 1994 weite Teile Bergkarabachs, es kam aber immer wieder zu Auseinandersetzungen und Gefechten, bis 2020 die Situation erneut eskalierte. Das mittlerweile durch Öl wohlhabend gewordene Aserbaidschan eroberte in dem sechswöchigen Krieg die Kontrolle über größere Teile der Region. Als Teil einer von Russland vermittelten Waffenruhe schickte Moskau anschließend Tausende Soldaten in die Region, um den Frieden zu überwachen.

Karte zeigt Bergkarabach
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA

Nutzt Aserbaidschan die derzeitige Lage?

Seit Beginn des Ukraine-Kriegs hatte es mehrmals geheißen, Russland könnte Teile seiner in Armenien stationierten Truppen abziehen. Schon im März flammte auch der Konflikt um Bergkarabach neu auf. Im August wurden bereits schwere Kämpfe vermeldet, die nunmehrigen Angriffe Aserbaidschans deuten aber auf eine weitere Verschärfung hin.

Internationale Experten deuten das als Versuch Aserbaidschans, im Schatten des Ukraine-Kriegs im Konflikt Fakten zu schaffen, noch dazu zu einem Zeitpunkt, zu dem Russland in der Ukraine erstmals wirklich in Bedrängnis kommt.

Angebliche Soldaten der Aserbaidschanisch Armee in der Grenzregion zu Armenien
Reuters/Armenien Defence Ministry
Das Bild des armenischen Verteidigungsministeriums soll aserbaidschanische Soldaten im Grenzgebiet zeigen

Armeniens komplexes Verhältnis zu Russland

Zwar wird Russland als Schutzmacht Armeniens gesehen, doch der Kaukasus-Staat signalisierte immer wieder Distanz zu Moskau, für Ministerpräsident Nikol Paschinjan ist es eine schwierige Gratwanderung. Einerseits geriet er 2019 mit seiner Äußerung, Bergkarabach gehöre Armenien, international – auch aus Russland – unter Druck. Andererseits musste er zwei Jahre später wegen Massenprotesten von Nationalisten Neuwahlen ausrufen. Ihm war vorgeworfen worden, er habe das Friedensabkommen von 2020, das Armenien aus Sicht der Demonstranten deutlich benachteiligte, zu schnell akzeptiert.

Die darauffolgende Wahl gewann Paschinjans Partei zwar klar, doch eine Stabilisierung seiner Position war das nur bedingt: Vor allem die städtische, gebildete Bevölkerung fordert eine Annäherung an Europa und eine Abkehr von Russland. Auch dass Moskau nicht nur Waffen an Armenien, sondern auch an den Gegner Aserbaidschan schickt, sorgte für Unmut.

Bei russischer Hilfe drohen Zugeständnisse

Im Ukraine-Krieg versuchte er eine klare Position zu vermeiden, um niemanden zu verärgern, kritisierte dann aber – wohl aus Rücksicht auf Moskau – den Westen. Mittlerweile sieht sich Armenien auch aus anderen Gründen in einer nicht ganz einfachen Lage: Seit Kriegsbeginn kamen aus Russland Tausende Menschen ins Land, die den Angriffskrieg ihrer Regierung nicht unterstützen oder gar Repressalien fürchten. Das macht die Sache für die armenische Regierung nicht leichter: Bäte man Russland jetzt im Konflikt um Hilfe, müsste man wohl eher unangenehme Zugeständnisse machen.

Dennoch telefonierte wegen der angespannten Lage Paschinjan bereits in der Nacht mit Russlands Präsidenten Wladimir Putin. Dabei habe der Regierungschef um Hilfe der Militärallianz OVKS gebeten, teilte das armenische Fernsehen mit. Der OVKS müsse zu „aktiven kollektiven Handlungen“ übergehen, forderte später auch das armenische Außenministerium.

Beziehung Moskau – Ankara belastet

Der neu aufgeflammte Konflikt könnte aber auch zu erhöhtem Gesprächsbedarf zwischen Moskau und Ankara führen: Die Türkei unterstützt Aserbaidschan, für Experten ist es fraglich, ob die autoritäre Regierung in Baku eine Offensive startet, ohne Ankara vorab zu informieren. Im schwierigen Verhältnis zwischen Russlands Präsident Putin und seinem türkischen Gegenüber Recep Tayyip Erdogan könnte das zu neuen Verwerfungen führen, just kurz nach dem Zeitpunkt, zu dem die beiden Ländern das Abkommen zur Ausfuhr von Getreide aus der Ukraine unter Dach und Fach gebracht haben.

Zahlreiche Vermittlungsangebote

Mittlerweile läuft die internationale Krisendiplomatie auf Hochtouren: Russland, die USA und die EU zeigten sich besorgt und forderten einen sofortigen Stopp der Kampfhandlungen. EU-Sonderbeauftragter Toivo Klaar brach in die beiden Hauptstädte auf, „um die erforderliche Deeskalation zu unterstützen“, wie EU-Außenbeauftragter Josep Borrell mitteilte. EU-Ratspräsident Charles Michel sei in Kontakt mit den Führungen beider Länder.

Die EU wolle weiterhin ein „ehrlicher Makler“ zwischen beiden Ländern sein und den Brüsseler Dialog zwischen Eriwan und Baku fortsetzen. Auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) forderte das sofortige Ende der militärischen Eskalation. Polen als derzeitiges Vorsitzland der OSZE stehe auch weiterhin bereit, an einer dauerhaften Lösung zwischen den Konfliktparteien im Südkaukasus mitzuwirken.

Auch UNO-Generalsekretär Antonio Guterres rief zur Entspannung der Lage auf. „Er fordert die Seiten auf, unverzüglich Schritte zur Deeskalation der Spannungen zu unternehmen, maximale Zurückhaltung zu üben und alle noch offenen Probleme durch Dialog und innerhalb bestehender Formate zu lösen“, teilte UNO-Sprecher Stephane Dujarric mit. Guterres sei „äußerst besorgt“ über die Entwicklung.

Feuerpause rasch gescheitert

Der Armenien-Verbündete Russland erklärte, er habe eine Feuerpause vermittelt, die seit dem Vormittag gelte und einzuhalten sei. Doch nach aserbaidschanischen Angaben wurde gegen die Vereinbarung nur 15 Minuten nach Inkrafttreten wieder verstoßen. Armeniens Ministerpräsident Paschinjan sagte russischen Medienberichten zufolge im Parlament, die Kämpfe würden zwar mittlerweile weniger intensiv ausgefochten, sie hielten aber in einigen Gegenden noch an.

Die Türkei forderte Armenien dazu auf, Provokationen zu unterlassen. US-Außenminister Antony Blinken unterstrich, es gebe für den Konflikt keine militärische Lösung. Der französische Präsident Emmanuel Macron kündigte an, die Angelegenheit vor den UNO-Sicherheitsrat zu bringen. Auch der Iran schaltete sich ein. Präsident Ebrahim Raisi telefonierte am Dienstag mit Paschinjan und teilte seine Besorgnis über die Eskaltion mit. Die Region könne keinen weiteren Krieg brauchen, so Raisi nach Angaben der staatlichen iranischen Agentur IRNA. Als „besorgniserregend“ wertete auch das österreichische Außenministerium die Kämpfe.