Menschen auf einer Straße in Kisvarda
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Ungarn

Vorentscheidung im Streit um EU-Gelder

Im EU-Rechtsstaatlichkeitsverfahren gegen Ungarn stehen wichtige Tage bevor: Die EU-Kommission könnte nämlich demnächst vorschlagen, Fördermittel für Ungarn zu streichen. Für die ungarische Regierung, die der EU zuletzt Abhilfemaßnahmen vorgelegt hatte, stehen mehrere Milliarden Euro auf dem Spiel. Eine Vorentscheidung könnte bereits am Mittwoch im EU-Parlament fallen.

Laut dem Onlinemagazin EUobserver dürften EU-Abgeordnete am Mittwoch eine Resolution verabschieden, die besagt, dass der rechtsnationale ungarische Ministerpräsident Viktor Orban das Land in ein „Hybridregime der Wahlautokratie“ verwandelt habe. Weiters werde die Kommission darin aufgerufen, im Rahmen des Mechanismus zur Verknüpfung von EU-Mitteln mit der Rechtsstaatlichkeit „unverzüglich Maßnahmen“ gegen Ungarn zu ergreifen.

Auch Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen griff das Thema im Zuge ihrer Rede zur Lage der EU am Mittwochvormittag auf. „Es ist die Pflicht und die vornehmste Aufgabe meiner Kommission, die Rechtsstaatlichkeit zu schützen“, sagte sie. Konkret kündigte von der Leyen mit Blick auf Ungarn an, schärfere Regeln im Kampf gegen Korruption vorzuschlagen. „Wenn wir Beitrittskandidaten auffordern, ihre Demokratien zu stärken, sind wir nur dann glaubwürdig, wenn wir auch die Korruption bei uns selbst beseitigen“, sagte von der Leyen.

Ungarns Premierminister Victor Orban
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Die EU erhob schwere Vorwürfe gegenüber der Regierung von Ungarns Ministerpräsidenten Viktor Orban

Brüssel wegen Korruption besorgt

Die EU-Kommission liegt mit Ungarn seit Längerem im Clinch: Brüssel wirft Orbans Regierung unter anderem Korruption, Interessenkonflikte und große Probleme bei der öffentlichen Auftragsvergabe und der Parteienfinanzierung vor. Dahinter steht der Verdacht, eine Clique um den Regierungschef bereichere sich zum Schaden des gemeinsamen EU-Budgets.

Die Kommission hatte deshalb im April nach monatelangem Zögern den Rechtsstaatsmechanismus ausgelöst, der zu einem Sanktionsbeschluss führen kann. Ungarn muss sich zugleich als erster EU-Mitgliedsstaat einem solchen Verfahren stellen. In den folgenden Monaten tauschten sich Brüssel und Budapest mehrmals über die Vorwürfe und Maßnahmen aus.

Finanzsanktionen drohen

Der genaue Umfang der möglichen Finanzsanktionen steht noch nicht fest. Am Ende des mehrstufigen Verfahrens kann die Kommission dem Rat der EU-Mitgliedsländer einen Vorschlag zur Streichung von Budgetmitteln für Ungarn machen.

Der Rechtsstaatsmechanismus ist seit Anfang 2021 in Kraft. Damit können bei Verstößen gegen gemeinsame Grundwerte Zahlungen aus dem EU-Budget für Länder gekürzt und Mittel aus den Strukturfonds eingefroren werden. Nötig ist am Ende ein Beschluss von mindestens 15 EU-Staaten, die für 65 Prozent der Bevölkerung stehen. Eingefroren wurden zudem bereits Hilfen für Ungarn in Höhe von gut sieben Milliarden Euro aus dem Coronavirus-Aufbaufonds.

EU-Kommissar für Haushalt und Verwaltung Johannes Hahn
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Budgetkommissar Johannes Hahn

Hahn-Brief: „Systemische Korruptionsprobleme“

Das Magazin „Politico“, aber auch EUobserver zitierten im Vorfeld der Abstimmung im EU-Parlament aus einem Schreiben an EU-Kommissarinnen und -Kommissare, das Budgetkommissar Johannes Hahn am 20. Juli verfasst hatte. „Die Europäische Kommission plant, die Gelder, die sie nach Ungarn schickt, aufgrund dessen, was sie als systemische Korruptionsprobleme des Landes identifiziert, zu reduzieren“, berichtete „Politico“.

Hahn wies in dem Schreiben laut Medienberichten auf „systembedingte Unfähigkeit, Versagen oder fehlenden Willen seitens der ungarischen Behörden hin, Entscheidungen zu verhindern, die hinsichtlich der öffentlichen Auftragsvergabe und Interessenkonflikten gegen geltendes Recht verstoßen, und damit Korruptionsrisiken angemessen zu begegnen.“

Berichte: Kürzung von EU-Geldern um 70 Prozent?

Hahn schlug laut „Politico“ vor, 70 Prozent der Mittel für drei Programme zur Kohäsionspolitik (auch Regionalpolitik) einzufrieren, von denen Ungarn im Rahmen des regulären Siebenjahreshaushalts der EU zu profitieren erhoffte. Die Regionalpolitik verfolgt das Ziel, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt innerhalb der EU zu stärken.

Nach Schätzungen des Grünen-Abgeordneten Daniel Freund entspreche die Kürzung etwa 20 Prozent der gesamten EU-Mittel, die Ungarn in diesem Siebenjahreshaushalt erhalten sollte. „Es ist richtig, dass die Kommission endlich handelt und Gelder einfrieren will", so Freund. Er merkte aber an, dass weiterhin viele EU-Milliarden „der systematischen Korruption“ des „Systems“ unter Orban ausgesetzt seien.

Antikorruptionsbehörde als Antwort auf Forderungen

Angesichts der hohen Inflation und drohenden Wirtschaftskrise braucht Orban die Mittel aus Brüssel dringend. Im Zuge des Verfahrens legte Ungarn der EU am 21. August ein Bündel an Maßnahmen vor, mit denen Brüssel besänftigt werden sollte. Laut EUobserver müsse die Kommission gemäß den Regeln des Verfahrens bis kommende Woche Mittwoch (21. September) entscheiden, ob diese ausreichend sind. Gehe Budapest bis dahin nicht „ausstehende Probleme“ an, „wird die Kommission dem Rat vorschlagen, Gelder einzufrieren“, teilte die Behörde der „Süddeutschen Zeitung“ mit.

Die ungarische Regierung beschloss unterdessen vergangene Woche die Schaffung einer unabhängigen Antikorruptionsbehörde, die seit Langem seitens der EU-Kommission gefordert wurde. Bis 30. September will die Regierung den Gesetzesentwurf zur Schaffung der Antikorruptionsbehörde im Parlament einbringen, wobei die Behörde am 21. November ihre Tätigkeit aufnehmen und über die Verwendung der EU-Gelder wachen soll.

Behörde für Abgeordneten „Witz“

Die Behörde soll eingreifen, wenn andere zuständige Stellen nicht die erforderlichen Schritte unternehmen, um Fälle von Betrug, Interessenkonflikten, Korruption und anderen Straftaten sowie Rechtswidrigkeiten bei der Verwendung von EU-Geldern zu verhindern, zu untersuchen oder zu lösen. Weiters soll bis zum 1. Dezember eine Antikorruptionsarbeitsgruppe geschaffen werden, auch unter Beteiligung von NGOs.

Der unabhängige Parlamentsabgeordnete Akos Hadhazy bezeichnete die Behörde als einen „Witz“, denn Orban könne die Behörde letztlich mit eigenen Leuten besetzen, sodass diese keinesfalls unabhängig sei. Es wäre ein tatsächlich effektiver Antikorruptionsschritt, würde sich Ungarn der Europäischen Staatsanwaltschaft anschließen, sagte Hadhazy dem unabhängigen Sender Klubradio. Er hoffe, dass Brüssel nicht auf diese „Scheinmaßnahme“ hereinfalle.

„Politico“ berichtete am Dienstag zudem, dass die Kommission den Druck auf Ungarn mit Blick auf eingefrorene Mittel aus dem CoV-Aufbaufonds erhöhen möchte. „Alle Entscheidungen müssen bis Ende des Jahres getroffen werden, andernfalls ist das Geld nicht mehr verfügbar. In gewisser Weise haben wir eine entscheidende Phase erreicht“, sagte Kommissionsvizepräsident Valdis Dombrovskis am Montagabend in Straßburg. Der Volt-Abgeordnete Damian Boeselager sah die Aussage hingegen als Indiz dafür, dass Brüssel Gründe suche, dem ungarischen Plan zuzustimmen.