Frau mit brasilianischer Flagge auf der Straße
Getty Images/FG Trade
Brasilien

Wahl mit „Auswirkungen auf ganze Welt“

Am 2. Oktober wählt Brasilien einen neuen Präsidenten. Luiz Inacio Lula da Silva liegt in allen Umfragen klar vor Amtsinhaber Jair Bolsonaro – jedoch bei Weitem nicht zur Freude aller, ist das Land doch tief gespalten. Klar ist Fachleuten zufolge: Diese Wahl hat große Auswirkungen, nicht nur auf Brasilien, sondern auf die ganze Welt.

„Brasilien ist ein Land, das von extremen Widersprüchen geprägt ist“, sagt der Brasilien-Experte Niklas Franzen gegenüber ORF.at. Er hat selbst mehrere Jahre in dem größten Land Lateinamerikas gelebt, in Sao Paulo als Korrespondent gearbeitet und kürzlich ein Buch mit dem Titel „Brasilien über alles. Bolsonaro und die rechte Revolte“ veröffentlicht. Der Experte spricht von extremen Ungleichheiten in Brasilien, von einer Polarisierung, die „besorgniserregend bis bedrohlich“ sei.

Die starke Gegensätzlichkeit spiegelt sich auch im Kandidatenfeld für die Präsidentschaftswahl wider. Zur Wahl stehen Lula da Silva, linke Galionsfigur, Ex-Präsident und Kandidat der sozialdemokratischen Arbeiterpartei (PT), und Jair Bolsonaro, rechter Populist, Ex-Militär und Kandidat der erzkonservativen Partido Liberal (PL).

„Polarisierendste Figuren in brasilianischer Politik“

Auch die „Washington Post“ („WP“) spricht von den „polarisierendsten Figuren in der brasilianischen Politik“. Beide repräsentieren Franzen zufolge bestimmte Teile der Bevölkerung. Gerade für die Präsidentschaftswahl sei das wichtig. Denn gewählt werde nicht etwa eine Partei oder ein Programm, sondern eine Persönlichkeit.

Ein Mann steht vor Wahlplakaten des ehemaligen brasilianischen Präsidenten Luiz Inacio Lula da Silva und Amtsinhaber Jair Bolsonaro
Reuters/Ueslei Marcelino
Bolsonaro oder Lula? Brasilien ist vor der Wahl tief gespalten

„Bolsonaro hat viele Wunden hinterlassen“

Sowohl Lula als auch Bolsonaro konnten ihre Fähigkeiten als Präsident bereits zeigen, Lula von 2003 bis 2010, Bolsonaro seit 2018. Vier Jahre später attestiert Franzen: „Bolsonaro hat das Land umgekrempelt. Und viele Wunden hinterlassen.“ Veränderungen sehe man in „fast allen gesellschaftlichen und politischen“ Bereichen.

Buchhinweis

Niklas Franzen: Brasilien über alles. Bolsonaro und die rechte Revolte. Assoziation A, 207 Seiten, 18 Euro.

So liberalisierte Bolsonaro ehemals strenge Waffengesetze, stärkte den Einfluss der reaktionären Evangelikalen im Staat und habe eine „neue politische Kultur des Hasses mit klaren Feindbildern“ geschaffen. Befürworter und Befürworterinnen von Bolsonaros Politik loben indes etwa seine strenge „Law and Order“-Linie sowie seinen neoliberalen Wirtschaftskurs.

Invasion des Regenwaldes

Besonders offensichtlich seien Veränderungen in der Umweltpolitik. „Bolsonaro hat Umwelt- und Indigenenbehörden zerschlagen. Er hat in allen staatlichen Organen linientreue Funktionäre eingesetzt. Das hat dazu geführt, dass Behörden, die Umweltkontrollen durchführen sollten, nicht mehr handlungsfähig sind.“ Mit verheerenden Folgen, so Franzen.

Mostbauer (ORF) über die Wahl in Brasilien

Rainer Mostbauer (ORF) berichtet aus Rio de Janeiro über die Wahlen in Brasilien. Außerdem erzählt er wie der Wahltag abgelaufen ist, da in Brasilien elektronisch gewählt wird. Des Weiteren spricht Mostbauer darüber, warum der linksgerichtete Ex-Präsident Lula so polarisiert.

Im brasilianischen Regenwald sei es zu einer regelrechten Invasion „mit Unterstützung der Regierung“ gekommen, so Franzen in Hinblick auf die enorme Abholzung in Amazonien. Das habe Auswirkungen auf die Biodiversität in der Region, aber natürlich auch auf die Lebensräume indigener Gemeinschaften. Und nicht zuletzt auch auf das Weltklima, gilt der Regenwald doch als „grüne Lunge“ der Erde und, so Franzen, „Frontlinie“ im Kampf gegen die Klimakrise.

Lateinamerikaprofessorin und Brasilien-Expertin Ursula Prutsch meint gegenüber ORF.at, dass es bei einem Sieg Lulas zwar wohl zur Wiedereinführung von speziellen Monitoring-Programmen von Abholzung kommen werde, doch auch Lulas Regierung habe einst eine sehr klassische Vorstellung von wirtschaftlicher Entwicklung vertreten. Als Beispiel nennt sie hier das große Staudammprojekt Belo Monte in Amazonien. „Ich hoffe, dass Lula auch gelernt hat von den Fehlern seiner Regierung“, so Prutsch.

Belo Monte Staudamm in Altamira, Para
AP/Andre Penner
Der Staudamm Belo Monte in Amazonien – errichtet unter Lula

Armut als größtes Thema

Trotz der weltweit großen Bedeutung brasilianischer Umweltpolitik spiele die Klimakrise im Land und im Wahlkampf selbst keine Rolle, erklärt Franzen. Das habe wohl damit zu tun, dass es Themen gibt, die als dringender erachtet werden, verweist der Experte etwa auf die „dramatische“ wirtschaftliche Misere im Land. „Die hohe Inflation, die hohe Arbeitslosigkeit, fast alle Brasilianer und Brasilianerinnen bekommen das zu spüren. Ein großer Teil der Bevölkerung ist in die Armut abgerutscht. 33 Millionen sind wieder am Hungern.“

Was wird gewählt?

In Brasilien werden am 2. Oktober nicht nur der Präsident, sondern auch das Parlament sowie die Gouverneure und Parlamente der Bundesstaaten gewählt.

An dieser Stelle bringe sich auch Lula ins Spiel. Mit Sozialprogrammen gelang es ihm einst, während seiner Amtszeit Millionen Menschen aus der bittersten Armut zu holen.

Wahlmotiv: Gute alte Zeiten

Auch wenn viele strukturelle Reformen ausblieben und die Korruption unter seiner Amtszeit blühte, würde Lula für „bessere Zeiten“ stehen, meint Franzen. „Ich glaube, viele blicken so ein bisschen sehnsüchtig zurück auf diese Amtszeit.“ Lula habe bereits angekündigt, dass er die Bekämpfung der Armut zur „Chefsache“ machen werde, so Franzen.

Wahl in Brasilien bringt Spannung

Die Wahl in Brasilien wird auf der ganzen Welt gespannt beobachtet. Denn das Land spielt mit seinen Regenwäldern eine wichtige Rolle im Kampf gegen den Klimawandel und hat außerdem viele Ressourcen, die es als Handelspartner interessant machen. Der umstrittene ultrarechte Amtsinhaber Jair Bolsonaro muss um die Wiederwahl zittern, denn in den Umfragen führte bis zuletzt der linksgerichtete Ex-Präsident Luis Ignacio Lula da Silva.

Prutsch verweist hierbei jedoch auf die Tatsache, dass diese „positiven, guten, wirtschaftlich erfolgreichen Jahre der Lula-Regierung“ einfach auf den damals sehr hohen Weltmarktpreisen für Agrarprodukte, Erdöl und Eisenerz basierten – jene Güter, die Brasilien in hohem Maße exportiert. Als die Weltmarktpreise wieder zu sinken begannen, fehlte folglich auch das Geld für großzügige Sozialprogramme.

Ehemaliger brasilianischer Präsident Luiz Inacio Lula da Silva bei einer Wahlkampfveranstaltung zur Präsidentenwahl
APA/AFP/Michael Dantas
Für viele Brasilianer und Brasilianerinnen steht Lula für „bessere Zeiten“

Lula zwischen „Verehrung und Verachtung“

Lula bewege die Wählerinnen und Wähler aber auch mit seiner eigenen Lebensgeschichte: „Er war selbst ein armer Landflüchtling, bevor er Gewerkschaftsführer wurde und in die Politik gegangen ist“, meint Franzen. Zudem inszeniere er sich als großer Versöhner, als Anti-Bolsonaro und als ein Präsident für alle.

Während Lula von den einen, so schreibt die „WP“, für seine Sozialpolitik verehrt werde, wird er von anderen als „Symbol der Korruption“ verachtet. Tatsächlich wurde der Ex-Präsident 2018 selbst wegen Korruption und Geldwäsche zu einer langen Haftstrafe verurteilt. Im vergangenen Jahr hob ein Richter am Obersten Gerichtshof das Urteil auf, und Lula erhielt seine politischen Rechte zurück.

Internationale Kritik schlug Lula auch Anfang Mai entgegen, als er den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj „genauso“ für den Krieg verantwortlich machte wie Russlands Präsidenten Wladimir Putin.

Riskantes Anti-Bolsonaro-Bündnis?

Über allem stehe jedoch die Frage, wie viel Spielraum Lula „für große Veränderungen“ überhaupt haben werde, so Franzen. Bereits jetzt suche er die Orientierung zur Mitte, etwa mit der Wahl eines Konservativen als Vizepräsidentschaftskandidaten.

„Lula muss breite Koalitionen und Mehrheiten finden und daher extrem viele Kompromisse eingehen.“ Zu rechnen sei folglich eher mit einer Mitte-links-Regierung als einer sozialistischen, meint Franzen. „Le Monde Diplomatique“ („LMD“) schreibt von einem „riskanten Anti-Bolsonaro-Bündnis“, das Lula hier mit ehemaligen politischen Feinden eingehe und somit viele Linke vor den Kopf stoße.

Experte: Bilder wie bei Kapitol-Sturm möglich

Unterdessen tue Bolsonaro, so Franzen, „alles, um den demokratischen Prozess an sich zu delegitimieren“. Bereits vor der Wahl sagte der Amtsinhaber, nur Gott könne ihn von der Präsidentschaft entfernen. Zudem schürte er Zweifel am elektronischen Wahlsystem. Zuletzt schlug Bolsonaro jedoch versöhnliche Töne an und verlautete, eine Niederlage akzeptieren zu wollen – wohl auch angesichts der Umfragewerte.

Dennoch: „Es ist davon auszugehen, dass im Fall einer Wahlniederlage Proteste stattfinden werden“, so Franzen. „Und es gibt die Möglichkeit, dass es Bilder geben könnte wie beim Kapitol-Sturm in Washington.“ Dass es zu einem Putsch kommen könne, verneint der Experte aber. Dafür gebe es nicht genug Rückhalt in der Bevölkerung. Auch die „WP“ schreibt von einer „Stimmung der Angst“, die bereits während des Wahlkampfs zu spüren gewesen sei und sich zudem in politisch motivierten Morden manifestiert habe – sowohl im Lager Bolsonaros als auch Lulas.

Brasilianischer Präsident Jair Bolsonaro bei den Unabhängigkeitsfeiern am 7. September 2022
APA/AFP/Evaristo Sa
Bolsonaro liegt in Umfragen hinter Lula

„Demokratie steht auf dem Spiel“

Franzen warnt abschließend vor voreiligen Schlüssen vor dem Vorliegen des Ergebnisses: „Es ist extrem gefährlich zu denken, dass die Wahl schon entschieden ist.“ Vieles deute auf eine Stichwahl Ende Oktober hin.

Eine zweite Amtszeit Bolsonaros würde weitreichende Konsequenzen haben, zeigen sich beide Fachleute überzeugt. Für Prutsch ist es eine „Richtungswahl, weil der Bestand und die Zukunft einer der größten Demokratien der Welt in Gefahr sind“. Ähnlich äußert sich Franzen: „Die Lehre aus anderen autoritären Ländern zeigt, dass wenn ein autoritärer Kandidat wiedergewählt wird, Tür und Tor für grundlegendere Veränderungen geöffnet werden.“ Das sei auch bei Bolsonaro zutreffend.

Im Fall einer Wiederwahl werde Bolsonaro folglich versuchen, die Fundamente des Staates weiter auszuhöhlen – sei es der Umbau der Justiz, die Umsetzung von umstrittenen Reformen oder die stärkere Kriminalisierung von sozialen Bewegungen. „Es deutet alles darauf hin, dass Bolsonaro, sollte er diese Wahl gewinnen, einem klaren rechtsautoritären Regime näherkommt.“