Was für eine Gruppe von Hallodris! Der Schalk schaut den Bartträgern auf dem Schwarz-Weiß-Foto aus den Augen. Bei genauerer Betrachtung erkennt man, dass die Gesichter einander überlagern. Durch Mehrfachbelichtung wurden aus sechs Kumpanen der Haagengesellschaft zehn. Sollte das ein Witz über das Doppeltsehen im Rausch ein? Schließlich taufte sich die Künstlerclique nach ihrem Stammwirt. Bei Josef Haagen, der auf der Gumpendorfer Straße das Lokal Zum blauen Freihaus betrieb, hoben Maler und Bildhauer ab 1881 die Gläser.
Was als lockere (Trink-)Gesellschaft begann, formierte sich 1900 zum Hagenbund. Die Newcomer wollten nicht länger dem konservativen Künstlerhaus angehören. So gründeten sie eine offene, liberale Zweckgemeinschaft von bis zu 250 Künstlerinnen und Künstlern, die bis zu ihrer Auflösung durch die Nazis 1938 Verkaufsausstellungen organisierte. „Leithammel“ wie Josef Hoffmann und Gustav Klimt in der Secession dominierten den Hagenbund ebenso wenig wie ein bestimmter Stil. Aber der Verein hatte bald seine eigene Bühne: Die Stadt Wien stellte dem Nachwuchs 400 Quadratmeter in der Zedlitzhalle, einem Marktgebäude beim Stadtpark, zur Verfügung. Wo zuvor Fisch, Fleisch, Kraut und Rüben verkauft wurden, gab es jetzt Bilder und Skulpturen für vielerlei Geschmäcker zu erstehen.
Der Hagenbund im Leopold Museum
Lepold-Museum-Direktor Hans-Peter Wipplinger führt ORF.at durch die Ausstellung „Hagenbund. Von der gemäßigten zur radikalen Moderne.“
Der Hagenbund wurde zum Sammelbecken für all jene, die weder historistische Salonmaler noch Secessionisten waren. Wie erfolgreich sein internationales Networking funktionierte, arbeitete eine Schau im Belvedere 2014 auf. Das Leopold Museum zeigt nun, dass die Vereinigung bis zum Zweiten Weltkrieg immer progressiver wurde. Vor allem in den turbulenten 1920er Jahren schufen Hagenbündler die besten Werke jener Epoche. Künstlerinnen waren zwar von Anfang an mit von der Partie, jedoch nicht als ordentliche Mitglieder. Das änderte sich 1924; Künstlerhaus und Secession nahmen Frauen erst nach 1945 auf.
Kaiser zu Besuch
Die Schau setzt mit atmosphärischen Landschaften ein, in die das Auge eintauchen kann. So zum Beispiel in das „Schwimmbad“ von Ludwig Ferdinand Graf (1905), das seine Lichteffekte vom Impressionismus abschaute. Unweit des Gemäldes steht Franz Barwigs Büste von Kaiser Franz Joseph, der die aufstrebende Künstlerschar sogar besuchte. Der Hagenbund revanchierte sich mit der „Kaiser-Huldigungs-Ausstellung“ zum Regierungsjubiläum 1908. Mit dieser Angepasstheit war es allerdings vorbei, als der Hagenbund den externen Stilrebellen Oskar Kokoschka einlud. Seine Stillleben sorgten für Buhrufe bei Publikum und Kritik. Die Soloschau von Egon Schiele, die das düstere Meisterwerk „Die Eremiten“ enthielt, sorgte für nicht weniger Zwiespalt.
Zehn Jahre später begannen auch die Hagenbündler, die Grenzen des damaligen Geschmacks auszureizen. Ein Saal über abstrakte Tendenzen demonstriert, wie die Malerei der Zwischenkriegszeit immer kantiger wird. Kristallin-kubische Formen und gewagte Farbkombis verfremden die dargestellten Figuren. Besonders stechen die Ölbilder von Fritz Schwarz-Waldegg hervor. In „Ewigkeit“ versetzt der Künstler eine Kleinfamilie in überirdisches Licht. Bei seinem schrillen Selbstporträt „Bekenntnis“ sieht es so aus, als würde er im eigenen Fleisch nach seinem Herzen graben. Was hätte dieser jüdische Künstler wohl noch geschaffen, wäre er nicht 1942 in einem Vernichtungslager ermordet worden?

Madonna, Paradies und Arbeiter
In den Bildthemen des Hagenbunds spiegelt sich auch der Zeitenwandel wider. Nach dem Ersten Weltkrieg wandten sich viele Künstler religiösen Themen zu. Von der Front traumatisierte Heimkehrer malten plötzlich Kreuzigungsszenen und Madonnen mit Kind. In „Das Opfer / Ecce Homo“ gruppiert Carry Hauser rund um den Heiland Typen mit fiesen Visagen, die an Otto Dix denken lassen.
Ausstellungshinweis
„Hagenbund. Von der gemäßigten zur radikalen Moderne“ ist noch bis zum 6.2.2023 im Leopold Museum zu sehen. Zur Ausstellung erschien ein Katalog.
Andere Hagenbündler inszenierten paradiesische Zufluchtsorte, wie zum Beispiel Oskar Laske, von dem drei „Wimmelbilder“ ein starkes Ensemble ergeben. Ein Garten Eden voller Tiere trifft dort auf eine „Sintflut“, in deren Wellen Nackte wie im Bad pritscheln. Auch politische Themen wurden immer wichtiger. Georg Jungs neusachliches Bild „Der Plan“ versammelt rotgekleidete Leute, die von der Revolution träumen. Der Sozialist Otto Rudolf Schatz, einer der interessantesten Künstler der Schau, widmete sich in 1.500 Holzschnitten der Sache der Arbeiter. Die Nazis verbrannten seine Holzstöcke.
An die Jazztrompete
In den 1920er Jahren stieg der Hagenbund auf einen urban-modernen Rhythmus ein. Gemälde wie Carry Hausers „Jazzband“ oder Bettina Ehrlich-Bauers „Jonny spielt auf“ verströmen das Lebensgefühl damaliger Nachtclubs. Hochgesteckte Haare und unpraktische Kleider gehören der Vergangenheit an. Die „Neue Frau“ trägt ihren Pagenkopf hoch, und manchmal sogar Krawatte, wie Anny Schröder-Ehrenfest im Doppelporträt mit ihrem Mann. Die vermeintlich so kühle „Neue Sachlichkeit“ macht auch die Melancholie angesichts der politischen und wirtschaftlichen Krise der Zwischenkriegszeit deutlich.
Und die Künstlerinnen? Auch ohne Mitgliedsausweis waren sie bei den meisten Hagenbund-Ausstellungen vertreten. Von dem guten Dutzend, die ab 1924 aufgenommen werden, zeigt die Schau einige wenige Werke. Lilly Steiner tritt in ihrem Selbstporträt von 1937 als selbstbestimmte Künstlerin in ihrem eigenen Atelier auf. Was für ein Kontrast zu Greta Freists ironischem Gruppenbild „Die Familie eines Malers“ daneben: Während der Künstlergatte pinselt und das Söhnchen liest, kümmert sich die Hausfrau mit Kopftuch um das leibliche Wohl.