Zerstörte russische Panzer in Isjum
Reuters/Ukrainian Armed Forces
Militärblogger

Hardliner bringen Putin in Dilemma

Nach der erfolgreichen ukrainischen Gegenoffensive bei Charkiw rumort es in der russischen Politik. Erstmals ist im Staatsfernsehen offene Kritik an der Kriegsführung zu hören. Doch es sind weniger die Kriegsgegner, die Druck auf Präsident Wladimir Putin erzeugen: Vor allem Militärblogger und Ultranationalisten kritisieren, dass der Krieg so nicht zu gewinnen ist, und drängen auf eine noch schärfere Gangart. Das wird für den Kreml zunehmend zum Dilemma.

Zum ersten Mal seit der Invasion hat der Kreml eine Niederlage auch eingestanden: Zunächst hatte man – wie zu Kriegsbeginn beim Rückzug aus der Region Kiew – nur von einer Neugruppierung der Truppen gesprochen. Nach enormer Kritik an dieser Darstellung scheint die russische Führung um Schadensminimierung bemüht: Man versucht die Niederlage kleinzureden.

Gleichzeitig, und das leiten Beobachterinnen und Beobachter von den öffentlichen Diskussionen im Staatsfernsehen ab, hat auch ein „Blame-Game“ begonnen: Er wird versucht, die Schuld an den Fehlentscheidungen auf Berater, die die Lage völlig falsch eingeschätzt hätten, abzuschieben. So sind auch erstmals Stimmen in den russischen Medien zu vernehmen, dass der Krieg so nicht gewonnen werden könne.

Köpferollen gefordert

Ultranationalistische Hardliner und die mittlerweile reichweitenstarken Pro-Invasion-Militärblogger gehen inzwischen weiter: Sie fordern ein Köpferollen in der Militärführung. Die Vorwürfe reichen von ungenügender Vorbereitung der Armee bis hin zu inkompetenter Führung und gar Verrat.

Gefordert werden unter anderem die Rücktritte von Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow. Putin ging zuletzt auf deutliche Distanz zu Schoigu. Ihn abzusetzen wäre aber gleichzeitig ein Eingeständnis des Scheiterns, gab auch der Politikwissenschaftler und Russland-Experte Gerhard Mangott im ZIB2-Interview am Dienstag zu bedenken.

Russland-Experte zu Kritik an „Militäroperation“

Russland-Experte Gerhard Mangott, Professor für Internationale Beziehungen an der Uni Innsbruck, spricht über die immer mehr aufkommende Kritik in Russland an der „Militäroperation“ in der Ukraine.

Millionen Leserinnen und Leser

Für den Kreml sind die Militärblogger so etwas wie die Geister, die man selbst gerufen hat. Zunächst verbreiteten sie Erfolgsgeschichten zwischen Fakten und Propaganda, doch in den vergangenen Wochen und Monaten mischten sich immer mehr kritische Stimmen darunter, die schon zuvor bei einigen strategischen Fehlern der russischen Armee sehr laut geworden sind. Und gleichzeitig ist ihr Einfluss enorm gestiegen: Einige der Blogger haben mittlerweile mehr als zwei Millionen Leserinnen und Leser, wie auch die „New York Times“ berichtet.

Blogger als „Dorn im Auge“ des Kreml

„Der Krieg hat ihnen ein neues Gefühl der Verbundenheit mit den Behörden gegeben und das Vertrauen, dass sie nun das Recht haben, ihre Forderungen an den Kreml zu richten“, schreibt Andrej Pertsew, Journalist des russischen Exilmediums Meduza, in einer Analyse für den US-Thinktank Carnegie Endowment for International Peace.

Die russische Journalistin Ekaterina Winokurowa berichtete laut Meduza schon vergangene Woche unter Berufung auf drei voneinander unabhängige Quellen aus dem Kreml, dass die Militärblogger die russische Führung mehr und mehr verärgern und ihr „ein Dorn im Auge“ seien. Dass das russische Militär die ukrainische Offensive übersehen hat und im wahrsten Sinne des Wortes überrannt worden ist, gibt der Kritik der Blogger nun noch mehr Gewicht. Sie fordern im Wesentlichen zwei Dinge: Eine Generalmobilmachung und die Bombardierung wichtiger Infrastrukturobjekte in der Ukraine.

Generalmobilmachung könnte Stimmung kippen lassen

Eine solche Generalmobilmachung, selbst eine Teilmobilmachung, wäre für Putin politisch aber ein hochriskanter Schritt. Die Erzählung der „Spezialoperation“ wäre nicht mehr aufrechtzuerhalten, man wäre in einem Krieg, der auch unmittelbar die Bevölkerung trifft, wenn Männer für den Kriegsdienst eingezogen werden. Das könnte wiederum die Stimmung im Land zum Kippen bringen. Bisher gab es – glaubt man den Umfragen – eine Mehrheit, die den Krieg unterstützt hat – auch wenn das Interesse an den Geschehnissen in der Ukraine überschaubar ist und zuletzt offenbar auch weiter abgenommen hat.

Auch militärisch fragwürdig

Auch militärisch wäre eine Generalmobilmachung kurzfristig wohl nicht sinnvoll: „Eine großangelegte Wehrpflicht würde die Fähigkeit des russischen Verteidigungsministeriums, neue Soldaten einzuziehen, auszubilden und auszurüsten, höchstwahrscheinlich überfordern“, schreibt der US-Thinktank Institute for the Study of War.

Allein die Ausbildung wäre zeitaufwendig, zudem wäre die „Beschaffung der notwendigen Ausrüstung, Munition und des Nachschubs für eine große Wehrpflichtigenarmee“ angesichts der berichteten russischen Materialengpässe „sehr schwierig“. Und ob die ausgedünnte und den laut Berichten teilweise demoralisierte Armee mit frisch rekrutierten Soldaten ohne große Kampferfahrung und mit wohl noch weniger Kampfmoral wirklich verstärkt würde, bleibt auch anzuzweifeln.

Auch Politiker fordern mehr Einsatz

Dennoch schwirrt der Begriff einer Mobilmachung mittlerweile auch in der russischen Politik herum. Am Dienstag forderte der Chef der Kommunistischen Partei, Gennadi Sjuganow, bei der ersten Herbstsitzung des Parlaments eine „Generalmobilmachung“, ließ sich dann aber korrigieren, dass er nur eine „wirtschaftliche Mobilisierung“ gefordert habe.

Der Vorsitzende der Partei Gerechtes Russland – Für die Wahrheit, Sergej Mironow, rief zu einer sozialen „Mobilisierung“ auf. Michail Scheremet von der Putin-Partei Geeintes Russland rief schon zuvor zu einer Generalmobilmachung auf. Der Aufruf ist aber vor einem anderen Hintergrund zu deuten: Scheremet ist nicht nur Duma-Abgeordneter, sondern auch Vizeministerpräsident der Krim.

Und eine solche Forderung nährt den Verdacht, dass die russische Führung der Krim tatsächlich in Sorge ist, dass die Ukraine die Halbinsel noch stärker als mit den bisher vereinzelten Luftschlägen in Angriff nehmen könnte. Dazu mischen sich auch Gerüchte, dass russische Beamte ihren Familien empfehlen, die Krim zu verlassen.

Beschuss von Infrastruktur als Zugeständnis

Bei der anderen Forderung scheint der Kreml aber die Militärblogger beschwichtigen zu wollen: Kurz nach der erfolgreichen ukrainischen Offensive wurde in der Millionenstadt Charkiw die kritische Infrastruktur beschossen, der Strom fiel für einige Zeit komplett aus. Genau das fordern nicht nur die Blogger, seit Kurzem ist das auch Thema in den vom Kreml gesteuerten Medien. Beobachter sehen hier einen deutlichen Schwenk der russischen Militärführung, die bisher – zumindest offiziell – dementiert hatte, zivile Infrastruktur ins Visier zu nehmen.