Heute ist das ehemalige Lebensborn-Heim im niederösterreichischen Pernitz ein „Lost Place“, den YouTuber lieben. Pittoresker Verfall, Graffitis, alte Unterlagen, eingeschlagene Scheiben (siehe ebenfalls im Video) – das Betreten ist eigentlich strengstens verboten. Ursprünglich eine von zwei jüdischen Ärzten ab Anfang des 20. Jahrhunderts geführte Lungenklinik, in der unter anderen Franz Kafka behandelt worden war, „arisierten“ die Nationalsozialisten das Haus nach dem „Anschluss“.
Schon 1935 hatte Himmler den SS-Verein Lebensborn gegründet. Im Gespräch mit ORF.at schildern Barbara Stelzl-Marx, Lukas Schretter und Sabine Nachbaur die zentrale Fragestellung des Forschungsprojektes, das vom Boltzmann-Institut für Kriegsfolgenforschung in Kooperation mit der Uni Graz durchgeführt wurde. Für Reichsführer SS Himmler sei der Verein Lebensborn ein besonderes Anliegen gewesen, betonen sie. Das „gute deutsche Blut“ galt es, laut Vereinsstatuten zu fördern. Ledige Frauen, die als „arisch“ galten, sollten von einem Schwangerschaftsabbruch abgehalten werden, damit das „gute“ Genmaterial nicht verschwendet wird.
Himmlers Detailversessenheit
Diese Frauen durften anonym entbinden und wurden auch rund um die Geburt unterstützt. Zudem konnten Familien von Angehörigen der SS und der Deutschen Polizei die Geburtskliniken nutzen, wo sie möglichst gut versorgt werden sollten. Die Zeit nach der Geburt wurde nicht nur für Nachversorgung, sondern auch zur ideologischen Festigung der Mütter im Sinne der NS-Ideologie genutzt.
Die Steigerung der Zahl „arischer“ Kinder wurde allerdings nicht annähernd in dem von Himmler erhofften Ausmaß erreicht. Seine Grundannahmen waren unrealistisch, das Zahlenmaterial bezüglich der Schwangerschaftsabbrüche unhaltbar. Lebensborn war ein symbolisch-ideologisches Projekt, bei dem die „deutsche Mutter“ als „Gefäß des Adels der Zukunft“ dienen sollte, wie es in den Statuten hieß. Himmler interessierte sich bis zuletzt für jedes Detail – etwa für die Frage, ob man die Kartoffeln im Heim lieber mit oder ohne Schale kochen sollte oder wie oft Frauen täglich stillten. Der Alltag stand ganz im Zeichen der nationalsozialistischen Rassenpolitik.
1.200 „Lebensborn-Kinder“ im Heim „Wienerwald“
Das Heim „Wienerwald“ war eines der größten im Dritten Reich. Um die 1.200 Kinder wurden dort bis 1945 geboren. 30 von ihnen folgten nun einem Aufruf des Boltzmann-Instituts und erklärten sich für Gespräche bereit. Eine umfassende Analyse ihrer Aussagen wurde noch nicht vorgenommen, aber schon jetzt, erzählen die Forscherinnen und Forscher, könne man erkennen, dass es einen sehr unterschiedlichen Umgang mit dem Geburtsort Lebensborn-Heim gebe.
Dieser oszilliert zwischen Verdrängung, Konfrontation und Relativierung. Für manche Menschen habe er kaum Bedeutung und sei nicht mehr als ein unwesentlicher Vermerk in der Geburtsurkunde. Für andere ist es ein Lebensthema, weil sich darin die Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte der Eltern manifestiert. Zu diesen zählt der Architekt und Stadtplaner Steiner.
Veranstaltungshinweis
„Das Lebensborn-Heim Wienerwald“: Podiumsgespräch mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen; Moderation: Barbara Stelzl-Marx; Dienstag, 20.9., um 18.00 Uhr im Haus der Geschichte in St. Pölten. Um Anmeldung wird gebeten unter bik-graz@bik.ac.at bzw. der Telefonnummer 0316-3808272.
- Podiumsgespräch zum Lebensborn-Heim (Boltzmann-Institut für Kriegsfolgenforschung)
„Mein Sturmbannführer“
Seinen „Erzeuger“ nennt Steiner im Gespräch „meinen Sturmbannführer“. Der illegale Nazi und spätere SSler war als Vater abwesend, aber als Figur mit fragwürdiger Nazi-Vergangenheit allgegenwärtig. Immer mehr Puzzlesteine über seine Geburt und die Karriere seines Vaters tauchten im Lauf der Kindheit und Jugend Steiners auf. Sein Leben lang suchte er nach Antworten. Vielleicht, so hofft er, erfährt er jetzt durch das Projekt des Boltzmann-Instituts Neues.
In seinem Beruf setzte er sich intensiv mit der Wiener Stadtplanung der Nationalsozialisten auseinander. Unter anderem zeichnete er maßgeblich für eine entsprechende Ausstellung im Architekturzentrum Wien verantwortlich. Und auch sonst versuchte er, „etwas gutzumachen“, etwa, indem er sich beim Verein Ute Bock und in der VinziRast engagierte.
Die Schwere des Schweigens
Von seiner Mutter und auch von seinem Vater erfuhr Steiner kaum ein Wort. Ähnlich erging es vielen ehemaligen „Lebensborn-Kindern“. Das Schweigen wiegt manchmal schwer.
Das Forschungsteam des Boltzmann-Instituts berichtet etwa von einem 80-Jährigen, der noch immer versucht, etwas über die NS-Vergangenheit des Vaters herauszufinden. Und einige Nachkommen und Angehörige der „Lebensborn-Kinder“ hätten sich gemeldet. Der Bedarf nach Vergangenheitsaufarbeitung ist also groß. Keinesfalls wollen die Betroffenen und ihre Nachkommen die Vergangenheit „endlich ruhen lassen“.