Die Ermittlungen hätten begonnen, am Freitag sollten erste Erkenntnisse vorliegen, sagte Selenskyj in seiner täglichen Videobotschaft. Journalisten der Nachrichtenagentur Associated Press sahen den Ort in einem Wald außerhalb von Isjum. Ein Massengrab trug eine Markierung, die besagte, dass es die Leichen von 17 ukrainischen Soldaten enthielt. Es war von Hunderten von Einzelgräbern umgeben, die nur durch Kreuze gekennzeichnet waren.
Ein Polizeibeamter sprach gegenüber dem Sender Sky News von einer Grabstätte mit etwa 440 Leichen, die in Isjum entdeckt worden sei. Einige der Verstorbenen seien durch Schüsse getötet worden, andere seien während Bombardierungen gestorben. „Ich kann sagen, dass es sich um eine der größten Begräbnisstätten in den befreiten Gebieten handelt“, so Serhij Bolwinow.
Ukraine: Massengrab in zurückeroberter Stadt
In der ukrainischen Stadt Isjum, die nach der russischen Invasion zurückerobert werden konnte, ist jetzt ein Massengrab entdeckt worden. Über 440 Menschen wurden dort verscharrt.
Präsidialamtschef Andrij Jermak warf den russischen Truppen Mord vor und veröffentlichte ein Foto von einem Waldgebiet mit grob gezimmerten Holzkreuzen. Alle in dem Massengrab gefundenen Leichen würden exhumiert und gerichtsmedizinisch untersucht, kündigte Jermak an. Am Freitag soll die Presse an den Ort gebracht werden.
Vergleiche mit Butscha und Mariupol
Selenskyj verglich Isjum mit den Städten Butscha und Mariupol, die zu Symbolen für die Gräuel der russischen Invasion in der Ukraine geworden sind. „Russland hinterlässt überall den Tod“, sagte er. Die Welt müsse Moskau „wirklich für diesen Krieg zur Rechenschaft ziehen“.
Nach dem Abzug russischer Truppen aus Butscha und anderen Vororten von Kiew Ende März waren dort Hunderte tote Zivilistinnen und Zivilisten entdeckt worden. Moskau stritt trotz erdrückender Beweise ab, dass die Tötungen auf das Konto russischer Soldaten gingen, und sprach von einer ukrainischen Inszenierung. Die Ukraine sammelt mit internationaler Hilfe Beweise für mutmaßliche Kriegsverbrechen der russischen Armee.
Normalisierung im Kriegsgebiet
Die russischen Streitkräfte hatten Isjum und andere Teile der Region Charkiw vergangene Woche inmitten einer ukrainischen Gegenoffensive verlassen. Am Mittwoch unternahm Selenskyj eine seltene Reise außerhalb der ukrainischen Hauptstadt, um der Hissung der Nationalflagge im Rathaus von Isjum beizuwohnen.
Selenskyj hatte betont, dass es wichtig sei, das Leben in den zurückeroberten Gebieten im Osten so schnell wie möglich wieder zu normalisieren. Als Beispiel für die angestrebte Normalisierung in zurückeroberten Gebieten nannte der Präsident, dass in der befreiten Stadt Balaklija im Gebiet Charkiw erstmals wieder Pensionen ausgezahlt worden seien – und zwar rückwirkend für fünf Monate.

Doch zugleich scheint sich die Erfahrung nach dem Abzug russischer Truppen aus der Umgebung von Kiew im Frühjahr zu wiederholen: Aus den befreiten Gebieten meldeten ukrainische Behörden Hinweise auf mutmaßliche Kriegsverbrechen der Besatzer. Im Gebiet Charkiw gebe es bereits 40 Verdachtsfälle, sagte Vizeinnenminister Jewhenij Jenin am Mittwoch.
Foltergefängnis gefunden
Ebenfalls aus Balaklija kam die Nachricht, dass russische Kräfte im örtlichen Polizeirevier ein Foltergefängnis unterhalten haben sollen. Im Keller seien während der mehrere Monate dauernden Besatzung durchgehend um die 40 Menschen eingesperrt gewesen, berichtete der ranghohe ukrainische Polizist Bolwinow nach einem Ortstermin.
„Die Besatzer nahmen diejenigen mit, die beim Militär dienten oder dort Verwandte hatten, und suchten auch nach denen, die der Armee halfen“, schrieb der Leiter der Ermittlungsabteilung bei der Polizei Charkiw auf Facebook. Laut Zeugenaussagen seien Gefangene mit Stromschlägen gefoltert worden. Reporter der BBC und anderer ausländischer Medien bestätigten die Angaben. Sie berichteten auch von Leichen, die in Balaklija gefunden worden seien. Auch aus anderen Orten der Region gab es unverifizierte Berichte über Leichenfunde.
Von der Leyen: Prozess gegen Putin „möglich“
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen schloss derweil nicht aus, dass der russische Präsident Wladimir Putin künftig vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) zur Verantwortung gezogen wird. Es stehe außer Zweifel, dass in der Ukraine schwerste Kriegsverbrechen begangen würden, sagte von der Leyen Bild TV. Einen Prozess gegen Putin vor dem IStGH halte sie „für möglich“.