Milan, Photocall film Rimini by Ulrich Seidl
picturedesk.com/Simone Comi
Weltpremiere von „Sparta“

Ulrich Seidl und die Folgen

Vor der Weltpremiere von Ulrich Seidls „Sparta“, dessen Dreharbeiten umstritten sind, stellt sich die Frage nach den Konsequenzen. Die Debatte macht deutlich: Die Filmbranche ist im Umbruch – und es ist höchste Zeit dafür.

Die Premiere beim Toronto Filmfestival wurde aufgrund der Vorwürfe gecancelt, nun hat unversehens das nordspanische Festival von San Sebastian die Ehre bekommen, Seidls Film „Sparta“ erstmals einem Publikum zu zeigen. Die nächste Gelegenheit, den Film zu sehen, wird dann beim Filmfest Hamburg sein, dort wird er am 5. Oktober gemeinsam mit dem Bruderfilm „Rimini“ gezeigt. Allerdings entschied die Festivalleitung, eine geplante Preisverleihung an Seidl abzusagen.

„Bezüglich des Douglas Sirk Preises haben wir uns dazu entschieden, den Preis nicht zu verleihen“, hieß es in einem Statement des Festivals, „da die aktuellen Vorwürfe gegen die Produktion eine Preisverleihung überschatten würden.“ Den Film betreffe das explizit nicht: „Es ist ein sehr einfühlsamer Film über ein besonders schwieriges und tabuisiertes Thema.“ „Sparta“ ist der zweite Teil eines Projekts, das zunächst unter dem Titel „Böse Spiele“ angekündigt war, über die beiden Söhne eines alten Nazis, die beide das Land verlassen und unterschiedlich am Leben scheitern.

„Nie Grenzen überschritten“

Der erste Teil „Rimini“ über den glücklosen Schlagersänger Richie Bravo hatte im Februar bei der Berlinale seine Premiere und war im April bei der Diagonale mit dem Hauptpreis ausgezeichnet worden. „Sparta“ handelt nun von Richies Bruder Ewald (gespielt von Georg Friedrich), der seine Freundin verlässt und in Rumänien eine alte Schule zu einer Festung für Buben umbaut. Beim Umgang mit den Kindern wird ihm seine lang unterdrückte pädophile Neigung wieder bewusst.

Der österreichische Regisseur Ulrich Seidl und Schauspieler Georg Friedrich auf dem Filmset
APA/Ingo Pertramer
Ulrich Seidl (M.) am Set von „Böse Spiele“. Die Szene auf dem Friedhof wurde später in „Rimini“ wiederverwendet, dem ersten Teil des filmischen Diptychons.

Bei den Dreharbeiten in Rumänien im Sommer 2019 soll es nach Aussagen anonymer österreichischer, deutscher und rumänischer Mitwirkender zu Unregelmäßigkeiten gegenüber minderjährigen Darstellern gekommen sein, wie im deutschen Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ Anfang September zu lesen war. Es seien gesetzliche Auflagen nicht befolgt worden, die psychologische und pädagogische Betreuung der Buben zwischen neun und 16 Jahren sei nicht ausreichend gewesen und die Kinder seien ohne genügende Vorbereitung mit Alkoholismus, körperlichen Übergriffen und Nacktheit konfrontiert worden.

In seinem bisher einzigen Statement zu den Vorwürfen hatte Seidl beklagt, das Rechercheteam vom „Spiegel“ habe nicht um eine Sichtung des Films gebeten, könne also gar nicht wissen, dass „kein Kind nackt oder in einer sexualisierten Situation, Pose oder Kontext gedreht worden“ sei. „Solche Szenen waren niemals meine Intention und wurden auch nicht gedreht. Nie haben wir beim Dreh die Grenzen des ethisch und moralisch Gebotenen überschritten.“

Regisseur Ulrich Seidl
Ingo Petramer/UlrichSeidlFilmproduktion
Regisseur Seidl: Man solle sich vor der Diskussion den Film anschauen

„Shitstorm entfesselt“

Seidl fasst als Filmemacher unangenehme Themen an, seine Filme sind kein Wohlfühlkino. Seine Erzählweise gilt als provokant. Momentan geht es aber um die Hintergründe zur Produktion. Die Vorwürfe gelten nicht den Inhalten. Seidl selbst forderte ein, den Film zu beurteilen: „Ich wünsche mir, dass ‚Sparta‘, wenn der Film erst einmal im Kino ist, diese von außen und erst im Zuge der Berichterstattung entstandenen Vorbehalte ausräumen kann.“

Was in einem fertigen Film zu sehen ist, lässt über die Umstände beim Dreh allerdings nur bedingt Rückschlüsse zu. Die Berichterstattung in den österreichischen Medien ist heterogen: Im Wochenmagazin „profil“ schrieb Feuilletonleiter Stefan Grissemann, Autor des Buches „Sündenfall. Die Grenzüberschreitungen des Filmemachers Ulrich Seidl“, von einem „Shitstorm nach bewährtem Muster“, den der „Spiegel“ mit seiner Berichterstattung entfesselt habe.

Gerald Heidegger zu Ulrich Seidl

ORF-Online-Chefredakteur Gerald Heidegger spricht über die Weltpremiere des umstrittenen Ulrich-Seidl-Films „Sparta“.

Zu Wort kamen im „profil“ langjährige Wegbegleiterinnen und Mitarbeiter von Seidl als Verteidiger des Regisseurs. In der Wochenzeitung „Der Falter“ hingegen gab es Zitate von anonymisierten Zeuginnen und Zeugen, die die Vorwürfe im „Spiegel“ bekräftigen und teils noch vertiefen. Von einem riskanten Manöver im übervoll besetzten Auto ist da die Rede und von einem erkrankten Kind, das trotz Fiebers nicht gleich heimgeschickt wurde. Was tatsächlich passiert oder nicht passiert ist, wird derzeit erhoben.

„Keine Polizei“

Das Österreichische Filminstitut (ÖFI) hat seit Anfang der Woche Unterlagen der UlrichSeidlFilm vorliegen, darunter Arbeitsverträge, aus denen sich Rückschlüsse auf An- und Abwesenheiten ziehen lassen. Außerdem melden sich vielfach Personen, die ihre Aussagen festgehalten haben wollen, so Iris Zappe-Heller, Vizedirektorin des ÖFI. Dem ÖFI geht es um die Einhaltung der Förderverträge, in denen auch steht, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen eingehalten werden müssen. „Aber wir sind keine Polizei, sondern eine Stelle, die Fördermittel vergibt.“

Bei der Beschäftigung von Minderjährigen an Filmsets ist die Lage immer heikel. Grundsätzlich ist Kinderarbeit verboten, das gilt für Österreich wie für Rumänien, und muss eigens genehmigt werden. Bei „Sparta“ kam erschwerend noch das ökonomische Machtgefälle hinzu: Während der Mindestlohn in Rumänien bei etwa 400 Euro liegt, bekamen die Kinder für ihre Mitarbeit am Dreh zwischen 50 und 60 Euro am Tag.

Der Fall Seidl in „Willkommen Österreich“

Alexander Dumreicher-Ivanceanu, Filmproduzent („Amour Fou“) und Obmann des Fachverbandes Film & Musik in der Wirtschaftskammer, kennt derlei Situationen aus eigener Erfahrung. Er produziert Margarethe von Trottas „Bachmann und Frisch“, wo kürzlich bei Dreharbeiten in Jordanien Kinder an Ort und Stelle involviert waren.

Doppelt heikel

„Gerade wenn es um Dreharbeiten in einem anderen Land geht, um Dreharbeiten mit Kindern, um Dreharbeiten mit einem großen Wohlstandsgefälle, müssen wir mit besonderer Sorgfalt vorgehen“, so Dumreicher-Ivanceanu gegenüber ORF.at, denn „wir Produzentinnen und Produzenten haben die Fürsorgepflicht, um ein Safe Set für alle sicherzustellen: beim Dreh ebenso wie in der Vor- und Postproduktion.“ Im Fall von „Sparta“ ist Seidl nicht nur Regisseur, sondern auch Produzent des Films. Auch wenn jemand aus seinem Team sich nicht korrekt verhalten haben soll, liegt das also in seiner Verantwortung.

„#We_do!“

Die vom Dachverband der Filmschaffenden eingerichtete Anlauf- und Beratungsstelle „#we_do!“ gegen Diskriminierung und Ungleichbehandlung, Machtmissbrauch, sexuelle Übergriffe und Verletzungen im Arbeitsrecht dokumentiert Vorfälle, branchenexterne Expertinnen und Experten bieten Beratung, und Führungskräfte können sich über Präventionsmaßnahmen und Regeln informieren.

Die implizite Sorge mancher Kritiker, dass diese Vorsicht nicht mit einem künstlerischen Gestus zusammenpasst, der echte, auch unangenehme Gefühle vor die Kamera holen will, lässt Dumreicher-Ivanceanu nicht gelten: „Diese Haltung suggeriert, dass künstlerische Freiheit Verhaltensweisen rechtfertigen könnte, die in Wahrheit nicht zu rechtfertigen sind. Der Glaube, dass nur das gnadenloseste Vorgehen des Genies die größte Kunst hervorbringt, hat sich ja auch am Theater und in anderen Kunstformen längst überholt.“

„Unabhängig davon, was am Set von Ulrich Seidl passiert oder nicht passiert ist, gehe ich davon aus, dass die öffentliche Debatte unser Bewusstsein weiter schärft und wir gemeinsam als Branche dafür sorgen, dass sich alle bei unseren Filmen wohl und sicher fühlen.“ In dieselbe Kerbe schlägt Zappe-Heller, „dass die Situation bei aller Bestürzung Anlass zu einer Katharsis ist, zu einer Reinigung, die zu einem respektvollen Umgang miteinander führen kann.“

Geld als Hebel

Erst vor wenigen Monaten war in die Förderverträge des ÖFI verpflichtend ein „Code of Ethics“ aufgenommen worden, ein „Leitbild für berufliches Verhalten“, das nun bei jedem neuen Vertrag mitunterschrieben werden muss. „Wir sind offenbar ein wenig blauäugig davon ausgegangen, dass respektvoller, ethischer Umgang grundsätzlich gewahrt bleibt“, so Zappe-Heller, ohne allerdings konkret auf die „Sparta“-Dreharbeiten Bezug zu nehmen.

„Es ist eigentlich ja sehr eigenartig, dass es jemanden braucht, der sagt: ‚Brüllt einander am Arbeitsplatz nicht an.‘ Unser Job beim Filminstitut ist es, Geld zu verteilen, aber zugleich geht damit auch viel Verantwortung einher. Und wie sich bei der Gender-Gleichstellung gezeigt hat: Geld ist ein Hebel, der zu einer strukturellen Veränderung eingesetzt werden kann.“ Im äußersten Fall könne es zu einer Rückforderung der Fördermittel kommen.

Maß und Ziel statt Überreaktionen

Meike Lauggas, Beraterin bei der Beratungsstelle „#we_do!“ gegen Diskriminierung, Machtmissbrauch, sexuelle Übergriffe und Verletzungen im Arbeitsrecht, warnt vor zu radikalen Konsequenzen. „So manche Überreaktion zeigt, dass es den Wunsch gibt, an Einzelfällen exemplarisch alles zu lösen, indem aber die größeren strukturellen Kontexte vernachlässigt werden.“ Das sei jedoch wenig zukunftsorientiert, denn es gebe eine ganze Palette an Handlungsoptionen.

Meike Lauggas
Johannes Zinner
„So manche Überreaktion zeigt, dass es den Wunsch gibt, an Einzelfällen exemplarisch alles zu lösen", sagt Meike Lauggas von der Plattform „#we_do!“

Eine Möglichkeit sei es, schon vom ersten gemeinsamen Gespräch vor dem Dreh, dem Warm-up, auf Präventionsmaßnahmen aufmerksam zu machen – und das ist es, was nun bei ersten Filmproduktionen getan wird. „Wenn etwas vorfällt, muss reagiert, aber deswegen nicht automatisch das ganze Projekt gestoppt werden. Das ist eine radikale Reaktion, die nicht unbedingt angemessen ist und die ja auch zum Schaden von Betroffenen ist, denn die haben dann eine Last auf den Schultern, die ist viel zu groß.“

Folgen und mögliche Dominoeffekte

Fördermittel zu entziehen hieße ja, allen Mitwirkenden an einem Film die wirtschaftliche Grundlage zu entziehen, was womöglich erst recht dazu führt, dass Betroffene lieber schweigen, als das zu riskieren. Wie ein sinnvoller Umgang damit in Zukunft aussehen kann, daran arbeitet die Branche momentan intensiv auf mehreren Ebenen, von der Erstellung von Handlungsleitfäden bis zu Schulungen für Verantwortliche.

Dumreicher-Ivanceanu sagt, „Die Branche ist erfreulicherweise schon länger im Umbruch“, und Lauggas: „Dass man für solche Fälle Aufmerksamkeit hat und darüber gesprochen wird, das beginnt ja nicht mit diesem Fall. Der ist ja das Ergebnis einer Entwicklung, weil die Aufmerksamkeit und Bereitschaft hinzuhören, in den letzten Jahren sukzessive gesteigert worden ist von engagierten Leuten, die gesagt haben: Wenn etwas ist, wir hören es uns an, wir nehmen es ernst, wir bagatellisieren es nicht.“

Welche konkreten Konsequenzen sich für Seidl ergeben werden, ist noch nicht absehbar. Jose Luis Rebordinos, Festivaldirektor von San Sebastian, wo die „Sparta“-Weltpremiere am Sonntag stattfinden wird, sagte gegenüber der APA: „Es ist ein herausragender, sehr eleganter Film, und alles, was den Betrachter verstören oder schockieren könnte, ist im Off“. Auch die Premiere in Hamburg wird wohl über die Bühne gehen, ein österreichischer Filmstart ist ohnehin erst für 2023 geplant. Ob es bis dahin zu einer abschließenden Beurteilung der Situation kommen kann, ist völlig offen.