Oleg Kotenko, Vermisstenbeauftragter der Ukrain, fotografiert beim Massengrab in Isjum
AP/Evgeniy Maloletka
Vermisstenbeauftragter

Grabfunde in Isjum wohl kein neues Butscha

In der Nähe der von ukrainischen Truppen zurückeroberten Stadt Isjum in der Oblast Charkiw sind laut ukrainischen Angaben rund 440 Gräber entdeckt worden. Bei den Leichenfunden handelt es sich Aussagen des ukrainischen Vermisstenbeauftragten Oleh Kotenko zufolge nicht um ein Massengrab, sondern um viele Einzelgräber. „Ich möchte das nicht Butscha nennen“, so Kotenko im ukrainischen TV in der Nacht auf Freitag.

„Hier wurden die Menschen, sagen wir einmal, zivilisierter beigesetzt“, so Kotenko gegenüber dem TV-Sender Nastojaschtschee Wremja. Ende März waren in dem Kiewer Vorort Butscha nach dem Abzug russischer Truppen Hunderte getötete Zivilisten teils mit Folterspuren gefunden worden. Butscha gilt seitdem als Symbol für schwerste Kriegsverbrechen im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, der am 24. Februar begann.

Die Menschen in Isjum wiederum seien wohl gestorben, als Russlands Truppen die Stadt im Zuge der Eroberung Ende März heftig beschossen hätten, sagte Kotenko: „Die Mehrzahl starb unter Beschuss, wir haben das den Daten nach bereits verstanden: Die Menschen kamen um, als sie (die Russen) die Stadt mit Artillerie beschossen.“ Die Bestattungsdienste hätten zum Teil nicht gewusst, wer die vielen toten Menschen seien. Deshalb stünden auf einigen Kreuzen nur Nummern. Derzeit bemühten sich die Behörden, ein Register mit den Fundorten der Leichen zu finden.

Zerstörtes Wohngebäude in Isjum
Reuters
Zerstörte Häuser in Isjum

Polizeichef: Bisher nur Zivilisten in Massengrab gefunden

Bei den meisten Leichen in einem Massengrab in Isjum handelt es sich nach Angaben des Chefs der ukrainischen Polizei, Ihor Klymenko, um Zivilisten. Obwohl man Informationen bekommen habe, dass Truppen dort waren, sei bisher kein einziger toter Soldat geborgen worden.

Journalisten der US-Nachrichtenagentur AP sahen den Ort in einem Wald außerhalb von Isjum. Ein Massengrab trug eine Markierung, die besagte, dass es die Leichen von 17 ukrainischen Soldaten enthielt. Es war von Hunderten von Einzelgräbern umgeben, die nur durch Kreuze gekennzeichnet waren.

Zwei Soldaten stehen vor einem Grab in Isjum
AP/Evgeniy Maloletka
Der ukrainische Vermisstenbeauftragte Oleh Kotenko (l.) bei den Gräbern in Isjum

UNO will Fundort rasch selbst untersuchen

Das Untersuchungsteam des UNO-Menschenrechtsbüros in Genf will Isjum so schnell wie möglich aufsuchen, wie eine Sprecherin in Genf sagte. Der Fund sei schockierend, und die Todesursache jedes einzelnen Verstorbenen müsse untersucht werden.

In Isjum wurden Augenzeugen zufolge rund 200 Holzkreuze entdeckt worden, die auf ein zweites Massengrab hindeuten könnten. Es sei mit der Exhumierung von Toten begonnen worden, rund 20 weiße Leichensäcke seien zu sehen. Die Holzkreuze befinden sich den Angaben zufolge am Rande eines Friedhofs im Nordwesten von Isjum.

Gouverneur: Leichen mit gefesselten Händen

Laut dem Gouverneur der Region Charkiw, Oleh Synjehubow, wurden Leichen mit am Rücken zusammengebundenen Händen gefunden. Ein Reporter der Agentur Agence France Press berichtete, er habe eine Leiche mit zusammengebundenen Händen gesehen. Reuters hatte zuvor berichtet, es seien mehrere Leichen mit Stricken um den Hals und gefesselten Händen gefunden worden. Diesen Bericht zog die Nachrichtenagentur mittlerweile zurück und betonte, die Reuters-Reporter, die an Ort und Stelle anwesend sind, hätten selbst keine solchen Leichen gesehen.

Ukrainische Polizisten und Gerichtsmediziner halfen bei der Exhumierung der Leichen an der mit Holzkreuzen markierten Stelle am Rande eines Friedhofs im Nordwesten der Stadt.

Selenskyi: Von „russischer Besatzung“ verursacht

Das russische Militär hatte Charkiw am Wochenende unter dem Druck ukrainischer Gegenoffensiven verlassen. Das Verteidigungsministerium in Moskau begründete das mit einer „Umgruppierung“ seiner Truppen, während selbst kremlnahe Quellen von einer verheerenden Niederlage sprachen. „Wir wollen, dass die Welt weiß, was die russische Besatzung verursacht hat“, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Donnerstag, ohne selbst Details zur Anzahl der Leichen oder der Todesursache zu nennen.

Ein verwundeter ukrainischer Soldat wird von einem Kameraden auf einer Straße gestützt
AP/Kostiantyn Liberov
Ein Konvoi mit ukrainischen Soldaten im befreiten Gebiet Charkow

In kürzlich zurückeroberten Gebieten wird nach weiteren Leichen gesucht. Die Suche werde durch Minen erschwert, sagte Kotenko der Agentur Unian zufolge. Dennoch werde jede Anstrengung unternommen – insbesondere auch, um die Körper gefallener Soldaten an ihre Familien übergeben zu können: „Wir setzen die Arbeit fort (…), damit die Familien die Soldaten, die für die Ukraine gestorben sind, so schnell wie möglich angemessen ehren können“, sagte Kotenko. Die Ermittlungen in Isjum hätten begonnen, sagte Selenskyj in seiner täglichen Videobotschaft weiter.

Feld nahe Isjum mit vielen Kratern
AP/Kostiantyn Liberov
Ein Feld in Isjum mit vielen Kratern zeigt die Heftigkeit der Kämpfe

Präsidialamtschef Andrij Jermak warf den russischen Truppen Mord vor und veröffentlichte ein Foto von einem Waldgebiet mit grob gezimmerten Holzkreuzen. Alle in dem Massengrab gefundenen Leichen würden exhumiert und gerichtsmedizinisch untersucht, kündigte Jermak an.

Polizeichef: „Zehn Folterräume“ entdeckt

In den von Russland zurückeroberten Gebieten im Nordosten wurden nach Angaben der ukrainischen Polizei mindestens „zehn Folterräume“ entdeckt. „Bis zum heutigen Tag kann ich von mindestens zehn Folterräumen in Orten der Region Charkiw sprechen“, sagte der nationale Polizeichef Klymenko am Freitag nach Angaben der Nachrichtenagentur Interfax. Allein zwei seien in der kleinen Stadt Balaklija entdeckt worden. Die Behörden hätten in 204 Fällen Ermittlungen wegen möglicher Kriegsverbrechen der russischen Streitkräfte, fügte Klymenko hinzu.

Polizist Durchgehend 40 Menschen in Keller eingesperrt

In Balaklija seien im Keller des Polizeireviers während der mehrere Monate dauernden Besatzung durchgehend um die 40 Menschen eingesperrt gewesen, berichtete der ranghohe ukrainische Polizist Serhij Bolwinow nach einem Ortstermin.

ein Mitglied der ukrainischen Armee bei der Dokumentation des Massengrabes
AP/Evgeniy Maloletka
Für internationale Ermittlungen werden Fotos gemacht

„Die Besatzer nahmen diejenigen mit, die beim Militär dienten oder dort Verwandte hatten, und suchten auch nach denen, die der Armee halfen“, schrieb der Leiter der Ermittlungsabteilung bei der Polizei Charkiw auf Facebook. Laut Zeugenaussagen seien Gefangene mit Stromschlägen gefoltert worden. Reporter der BBC und anderer ausländischer Medien bestätigten die Angaben. Sie berichteten auch von Leichen, die in Balaklija gefunden worden seien.