Selenskyj betonte in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Reuters, es gebe Hinweise auf von russischen Soldaten verübte Kriegsverbrechen. Die Funde sollten mit internationaler Hilfe untersucht werden. Dem Gouverneur von Charkiw, Oleh Synjehubow, zufolge wurden in einem Massengrab in der zurückeroberten Stadt Isjum Leichen mit auf dem Rücken gefesselten Händen gefunden. „Nach unseren Informationen weisen alle Bestatteten Anzeichen eines gewaltsamen Todes auf“, sagte Synjehubow bei einer Visite in Isjum.
Reuters hatte zuvor berichtet, es seien mehrere Leichen mit Stricken um den Hals und gefesselten Händen gefunden worden. Diesen Bericht zog die Nachrichtenagentur allerdings zurück und betonte, die Reuters-Reporter, die an Ort und Stelle anwesend sind, hätten selbst keine solchen Leichen gesehen. Russland bestreitet seit Kriegsbeginn gezielte Angriffe auf die Zivilbevölkerung und weist alle Foltervorwürfe zurück.
Grabfunde in Isjum
In der Nähe der von ukrainischen Truppen zurückeroberten Stadt Isjum in der Oblast Charkiw sind laut ukrainischen Angaben rund 440 Gräber entdeckt worden. Bei den Leichenfunden handelt es sich Aussagen des ukrainischen Vermisstenbeauftragten Oleh Kotenko zufolge nicht um ein Massengrab, sondern um viele Einzelgräber. „Ich möchte das nicht Butscha nennen“, so Kotenko im ukrainischen TV in der Nacht auf Freitag.
Abends vermeldete die ukrainische Nachrichtenagentur Interfax, dass in den zurückeroberten Gebieten mehr als 1.000 Menschen gefoltert und getötet wurden. Die ukrainischen Behörden würden zudem in den kommenden Tagen die genaue Zahl der in einem Massengrab in Isjum gefundenen Menschen bekanntgeben, zitierte die Nachrichtenagentur den Menschenrechtsbeauftragten des ukrainischen Parlaments, Dmytro Lubinez.
Vermisstenbeauftragter: „Nicht Butscha“
Am Vortag hatte der ukrainische Vermisstenbeauftragte Oleh Kotenko nach dem Fund von mehr als 400 Gräbern nahe Isjum betont, es handle sich nicht um ein Massengrab, sondern um viele Einzelgräber. „Ich möchte das nicht Butscha nennen“, so Kotenko im ukrainischen TV in der Nacht auf Freitag.
„Hier wurden die Menschen, sagen wir einmal, zivilisierter beigesetzt“, so Kotenko gegenüber dem TV-Sender Nastojaschtschee Wremja. Ende März waren in dem Kiewer Vorort Butscha nach dem Abzug russischer Truppen Hunderte getötete Zivilisten teils mit Folterspuren gefunden worden. Butscha gilt seitdem als Symbol für schwerste Kriegsverbrechen im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, der am 24. Februar begann.
Die Menschen in Isjum wiederum seien wohl gestorben, als Russlands Truppen die Stadt im Zuge der Eroberung Ende März heftig beschossen hätten, sagte Kotenko: „Die Mehrzahl starb unter Beschuss, wir haben das den Daten nach bereits verstanden: Die Menschen kamen um, als sie (die Russen, Anm.) die Stadt mit Artillerie beschossen.“ Die Bestattungsdienste hätten zum Teil nicht gewusst, wer die vielen toten Menschen seien. Deshalb stünden auf einigen Kreuzen nur Nummern. Derzeit bemühten sich die Behörden, ein Register mit den Fundorten der Leichen zu finden.
Polizeichef: Bisher nur Zivilisten in Massengrab gefunden
Bei den meisten Leichen in einem Massengrab in Isjum handelt es sich nach Angaben des Chefs der ukrainischen Polizei, Ihor Klymenko, um Zivilisten. Obwohl man Informationen bekommen habe, dass Truppen dort waren, sei bisher kein einziger toter Soldat geborgen worden.
Journalisten der US-Nachrichtenagentur AP sahen den Ort in einem Wald außerhalb von Isjum. Ein Massengrab trug eine Markierung, die besagte, dass es die Leichen von 17 ukrainischen Soldaten enthielt. Es war von Hunderten von Einzelgräbern umgeben, die nur durch Kreuze gekennzeichnet waren.
USA: „Abscheulich“
Die US-Regierung bezeichnet die Leichenfunde als „abscheulich“. „Es passt leider zu der Art von Verdorbenheit und Brutalität, mit der die russischen Streitkräfte diesen Krieg gegen die Ukraine und das ukrainische Volk führen“, sagte der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrates, John Kirby, am Freitag. „Es ist absolut verdorben und brutal.“
ZIB-Korrespondent Christian Wehrschütz aus Isjum über die Leichenfunde in der rückeroberten Stadt.
UNO will Fundort rasch selbst untersuchen
Das Untersuchungsteam des UNO-Menschenrechtsbüros in Genf will Isjum so schnell wie möglich aufsuchen, wie eine Sprecherin in Genf sagte. Der Fund sei schockierend, und die Todesursache jedes einzelnen Verstorbenen müsse untersucht werden.
In Isjum wurden Augenzeugen zufolge rund 200 Holzkreuze entdeckt, die auf ein zweites Massengrab hindeuten könnten. Es sei mit der Exhumierung von Toten begonnen worden, rund 20 weiße Leichensäcke seien zu sehen. Die Holzkreuze befinden sich den Angaben zufolge am Rande eines Friedhofs im Nordwesten von Isjum. Ukrainische Polizisten und Gerichtsmediziner halfen bei der Exhumierung der Leichen an der markierten Stelle.
In kürzlich zurückeroberten Gebieten wird nach weiteren Leichen gesucht. Die Suche werde durch Minen erschwert, sagte Kotenko der Agentur Unian zufolge. Dennoch werde jede Anstrengung unternommen – insbesondere auch, um die Körper gefallener Soldaten an ihre Familien übergeben zu können: „Wir setzen die Arbeit fort (…), damit die Familien die Soldaten, die für die Ukraine gestorben sind, so schnell wie möglich angemessen ehren können“, sagte Kotenko. Die Ermittlungen in Isjum hätten begonnen, sagte Selenskyj in seiner täglichen Videobotschaft weiter.
Präsidialamtschef Andrij Jermak warf den russischen Truppen Mord vor und veröffentlichte ein Foto von einem Waldgebiet mit grob gezimmerten Holzkreuzen. Alle in dem Massengrab gefundenen Leichen würden exhumiert und gerichtsmedizinisch untersucht, kündigte Jermak an.
Polizeichef: „Zehn Folterräume“ entdeckt
In den von Russland zurückeroberten Gebieten im Nordosten wurden nach Angaben der ukrainischen Polizei mindestens „zehn Folterräume“ entdeckt. „Bis zum heutigen Tag kann ich von mindestens zehn Folterräumen in Orten der Region Charkiw sprechen“, sagte der nationale Polizeichef Klymenko am Freitag nach Angaben der Nachrichtenagentur Interfax. Allein zwei seien in der kleinen Stadt Balaklija entdeckt worden. Die Behörden hätten in 204 Fällen Ermittlungen wegen möglicher Kriegsverbrechen der russischen Streitkräfte aufgenommen, fügte Klymenko hinzu.
Polizist: Durchgehend 40 Menschen in Keller eingesperrt
In Balaklija seien im Keller des Polizeireviers während der mehrere Monate dauernden Besatzung durchgehend um die 40 Menschen eingesperrt gewesen, berichtete der ranghohe ukrainische Polizist Serhij Bolwinow nach einem Ortstermin.
„Die Besatzer nahmen diejenigen mit, die beim Militär dienten oder dort Verwandte hatten, und suchten auch nach denen, die der Armee halfen“, schrieb der Leiter der Ermittlungsabteilung bei der Polizei Charkiw auf Facebook. Laut Zeugenaussagen seien Gefangene mit Stromschlägen gefoltert worden. Reporter der BBC und anderer ausländischer Medien bestätigten die Angaben. Sie berichteten auch von Leichen, die in Balaklija gefunden worden seien.