EU-Ratspräsidentschaft fordert Kriegsverbrechertribunal

Nach der Entdeckung von Hunderten Gräbern in zurückeroberten Gebieten in der Ukraine hat die tschechische EU-Ratspräsidentschaft die Einsetzung eines internationalen Kriegsverbrechertribunals zur Ukraine gefordert. „Im 21. Jahrhundert sind solche Angriffe auf die Zivilbevölkerung undenkbar und abscheulich“, erklärte der tschechische Außenminister Jan Lipavsky gestern auf dem Kurznachrichtendienst Twitter. „Wir dürfen nicht darüber hinwegsehen. Wir setzen uns für die Bestrafung aller Kriegsverbrecher ein.“

Leichen mit zusammengebundenen Händen

Lipavsky hob hervor: „Ich rufe zur raschen Einsetzung eines speziellen internationalen Tribunals auf, das die Verbrechen verfolgt.“ Nach Angaben von Ermittlerinnen und Ermittlern hatten einige der in den rund 450 Gräbern bei der ostukrainischen Stadt Isjum gefundenen Leichen die Hände auf dem Rücken zusammengebunden. Viele sollen auch gefoltert worden sein.

Selenskyj wirft Russlands Besatzern Folterpraktiken vor

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj warf Russland grausame Folter vor. Es seien inzwischen mehr als zehn Folterkammern in verschiedenen Städten des befreiten Gebiets entdeckt worden, sagte Selenskyj in einer gestern in Kiew vom Präsidentenamt verbreiteten Videobotschaft. „Folter war eine weit verbreitete Praxis in dem besetzten Gebiet“, sagte der Präsident.

Er bezeichnete die vor einer Woche geflohenen Besatzer als „Raschisten“ und sagte, so hätten sich auch die „Nazis“ verhalten. „Raschismus“ vereint die Wörter Russland und Faschismus und wird von den Ukrainern als Begriff für „russischen Faschismus“ benutzt. Wie die „Nazis“ würden auch die „Raschisten“ auf dem Schlachtfeld und vor Gericht für ihre Taten zur Verantwortung gezogen, sagte Selenskyj.

„Wir werden die Identitäten aller ermitteln, die gefoltert und misshandelt haben, die diese Grausamkeiten von Russland hier auf ukrainisches Gebiet gebracht haben“, sagte der 44-Jährige. Bei ihrer Flucht hätten die Besatzer Foltergeräte zurückgelassen. Ukrainische Behörden veröffentlichten unterdessen Fotos, die Folterkammern und -geräte zeigen sollen.

Selenskyj: Neue Beweise für Folter

Nach Darstellung Selenskyjs wurden Menschen mit Drähten und Stromschlägen gequält. So sei etwa auf einem Bahnhof in Kosatscha Lopan ein Folterraum mit elektrischen Folterwerkzeugen entdeckt worden. Auch bei den in einem Waldstück nahe der Stadt Isjum gefundenen Leichen seien neue Beweise für Folter sichergestellt worden. Die Exhumierung der Toten auf der „Massengrabstätte“ sei fortgesetzt worden, sagte Selenskyj gestern.

In Isjum wurden mehr als 440 Gräber mit Leichen gefunden. Die Menschen sollen ersten Erkenntnissen zufolge ums Leben gekommen sein, als Russland die Stadt Ende März heftig beschossen habe.

Ende März waren auch in dem Kiewer Vorort Butscha nach dem Abzug russischer Truppen Hunderte getötete Zivilisten teils mit Folterspuren und gefesselten Händen gefunden worden. Butscha gilt seitdem als Symbol für schwerste Kriegsverbrechen im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine.

Der Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, Admiral Rob Bauer, sieht in der westlichen Militärhilfe und der Kriegsführung des ukrainischen Militärs entscheidende Faktoren für die jüngsten Erfolge Kiews. „Die Munition, Ausrüstung und Ausbildung, die die Verbündeten und andere Nationen liefern, machen auf dem Schlachtfeld einen echten Unterschied“, sagte der Niederländer gestern in Estlands Hauptstadt Tallinn, wo sich der Ausschuss traf, dem die Generalstabschefs der 30 Mitgliedsstaaten angehören.

„NATO wird die Ukraine so lange wie nötig unterstützen“

Die ukrainische Armee hatte zuletzt bei einer Gegenoffensive im Osten des Landes von russischen Kräften besetztes Gebiet zurückerobert. Nach Angaben von Bauer haben die Generalstabschefs bei ihrer zweitägigen Konferenz darüber beraten, wie die Unterstützung der Verbündeten für die Ukraine „aufrechterhalten und ausgebaut werden kann“. „Die NATO wird die Ukraine so lange wie nötig unterstützen. Der Winter kommt, aber die Unterstützung soll unerschütterlich bleiben“, sagte er.

Der NATO-Militärausschuss berät den Nordatlantikrat, das höchste politische Gremium der NATO, in militärischen Fragen. Ein Schwerpunkt der Konferenz in Tallinn war die Umsetzung der Beschlüsse des NATO-Gipfels in Madrid Ende Juni. Als geladene Gäste nahmen zum ersten Mal die Verteidigungschefs von Finnland und Schweden an der Konferenz teil. Die beiden nordischen EU-Länder hatten nach Russlands Angriff auf die Ukraine die Aufnahme in das Verteidigungsbündnis beantragt.