Hilfskräfte in Izium graben Leiche aus
AP/Evgeniy Maloletka
„Weit verbreitete Praxis“

Kiew wirft Moskau Folter vor

Im befreiten ostukrainischen Gebiet Charkiw wollen ukrainische Ermittler nach dem Abzug von Moskaus Streitkräften weiter Beweise für Kriegsverbrechen sichern. Berichte über grausame Folterpraktiken der russischen Truppen häuften sich dabei zuletzt: „Folter war eine weit verbreitete Praxis in dem besetzten Gebiet“, sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj in einer am Samstag verbreiteten Videobotschaft.

Es seien inzwischen mehr als zehn Folterkammern in verschiedenen Städten des befreiten Gebietes entdeckt worden, sagte Selenskyj. Er bezeichnete die vor einer Woche geflohenen Besatzer als „Raschisten“ und sagte, so hätten sich auch die „Nazis“ verhalten. „Raschismus“ vereint die Wörter Russland und Faschismus und wird von den Ukrainern als Begriff für „russischen Faschismus“ benutzt. Wie die „Nazis“ würden auch die „Raschisten“ auf dem Schlachtfeld und vor Gericht für ihre Taten zur Verantwortung gezogen, so Selenskyj.

„Wir werden die Identitäten aller ermitteln, die gefoltert und misshandelt haben, die diese Grausamkeiten von Russland hier auf ukrainisches Gebiet gebracht haben“, sagte der 44-Jährige. Bei ihrer Flucht hätten die Besatzer Foltergeräte zurückgelassen. Ukrainische Behörden veröffentlichten Fotos, die Folterkammern und -geräte zeigen sollen.

Wolodymyr Selenskyj vor Ukraine Flagge
Reuters/Valentyn Ogirenko
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj übt scharfe Kritik an Russland

Selenskyj: Neue Beweise in Wald bei Isjum gefunden

Nach Darstellung Selenskyjs wurden Menschen mit Drähten und Stromschlägen gequält. So sei etwa auf einem Bahnhof in Kosatscha Lopan ein Folterraum mit elektrischen Folterwerkzeugen entdeckt worden. Auch bei den in einem Waldstück nahe der Stadt Isjum gefundenen Leichen seien neue Beweise für Folter sichergestellt worden. Die Exhumierung der Toten auf der „Massengrabstätte“ sei fortgesetzt worden, sagte Selenskyj.

In Isjum wurden mehr als 440 Gräber mit Leichen gefunden. Die Menschen sollen ersten Erkenntnissen zufolge ums Leben gekommen sein, als Russland die Stadt Ende März heftig beschossen habe. In dem Waldstück nahe der Stadt Isjum geht die Exhumierung der Leichen auch am Sonntag weiter. Geklärt werden sollen die Identität der Menschen und die Todesursache.

Ende März waren auch in dem Kiewer Vorort Butscha nach dem Abzug russischer Truppen Hunderte getötete Zivilisten teils mit Folterspuren und gefesselten Händen gefunden worden. Butscha gilt seitdem als Symbol für schwerste Kriegsverbrechen im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Russland bestreitet seit Kriegsbeginn gezielte Angriffe auf die Zivilbevölkerung und weist alle Foltervorwürfe zurück.

Region Charkiw beklagt weiter Beschuss

Der Beschuss in der Region Charkiw geht nach ukrainischen Angaben trotz des Abzugs der russischen Truppen weiter. Der Feind habe die befreiten Städte Isjum und Tschuhujiw massiv beschossen, es seien Wohn- und Geschäftsgebäude sowie Tankstellen und Produktionsanlagen zerstört worden, teilte der ukrainische Gebietsgouverneur Oleh Sinegubow am Sonntag in seinem Blog im Nachrichtendienst Telegram mit.

In Tschuhujiw sei ein elf Jahre altes Mädchen durch den Beschuss getötet worden. Bei einer Autofahrt in der Region seien zudem zwei Frauen von einem Panzergeschoß tödlich verletzt worden.

Sinegubow informierte am Vorabend auch darüber, dass von der „Massengrabstätte“ in einem Waldstück in der Nähe der Stadt Isjum bisher rund 60 Leichen geborgen worden seien. Die meisten Frauen und Männer waren demnach Zivilisten. Unter den Toten waren auch zahlreiche ukrainische Soldaten. Die meisten seien eines gewaltsamen Todes gestorben, sagte er.

EU-Ratspräsidentschaft fordert Kriegsverbrechertribunal

Nach der Entdeckung von Hunderten Gräbern in zurückeroberten Gebieten forderte die tschechische EU-Ratspräsidentschaft die Einsetzung eines internationalen Kriegsverbrechertribunals zur Ukraine. „Im 21. Jahrhundert sind solche Angriffe auf die Zivilbevölkerung undenkbar und abscheulich“, erklärte der tschechische Außenminister Jan Lipavsky bei Twitter. „Wir dürfen nicht darüber hinwegsehen. Wir setzen uns für die Bestrafung aller Kriegsverbrecher ein.“

Lipavsky hob hervor: „Ich rufe zur raschen Einsetzung eines speziellen internationalen Tribunals auf, das die Verbrechen verfolgt.“ Nach Angaben von Ermittlerinnen und Ermittlern hatten einige der in Gräbern bei Isjum gefundenen Leichen die Hände auf dem Rücken zusammengebunden. Viele sollen auch gefoltert worden sein. Auch die deutsche Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) forderte die Aufklärung möglicher Kriegsverbrechen. „Diese furchtbaren Verbrechen müssen unbedingt aufgeklärt werden – am besten von den Vereinten Nationen“, sagte sie den Zeitungen der Funke-Gruppe.

NATO-Militär: Westliche Militärhilfe macht Unterschied

Die ukrainische Armee hatte zuletzt bei einer Gegenoffensive im Osten des Landes von russischen Kräften besetztes Gebiet zurückerobert. Der Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, Admiral Rob Bauer, sieht in der westlichen Militärhilfe und der Kriegsführung des ukrainischen Militärs entscheidende Faktoren für die jüngsten Erfolge Kiews.

„Die Munition, Ausrüstung und Ausbildung, die die Verbündeten und andere Nationen liefern, machen auf dem Schlachtfeld einen echten Unterschied“, sagte der Niederländer am Samstag in Estlands Hauptstadt Tallinn, wo sich der Ausschuss traf, dem die Generalstabschefs der 30 Mitgliedsstaaten angehören.

„NATO wird Ukraine so lange wie nötig unterstützen“

Nach Angaben von Bauer haben die Generalstabschefs bei ihrer zweitägigen Konferenz darüber beraten, wie die Unterstützung der Verbündeten für die Ukraine „aufrechterhalten und ausgebaut werden kann“. „Die NATO wird die Ukraine so lange wie nötig unterstützen. Der Winter kommt, aber die Unterstützung soll unerschütterlich bleiben“, sagte er.

Der NATO-Militärausschuss berät den Nordatlantikrat, das höchste politische Gremium der NATO, in militärischen Fragen. Ein Schwerpunkt der Konferenz in Tallinn war die Umsetzung der Beschlüsse des NATO-Gipfels in Madrid Ende Juni. Als geladene Gäste nahmen zum ersten Mal die Verteidigungschefs von Finnland und Schweden an der Konferenz teil. Die beiden nordischen EU-Länder hatten nach Russlands Angriff auf die Ukraine die Aufnahme in das Verteidigungsbündnis beantragt.