Tafel mit Goldberg Variationen und Primzahlen
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Logik und Rätsel

Die Mathematik der „Goldberg-Variationen“

Wenn es zwei Stücke in der Geschichte der Musik gibt, an deren Rätsel sich die Welt abarbeitet, dann sind das wohl Beethovens „Diabelli-Variationen“ und dank Glenn Gould seit 1955 zum Kultformat geworden: Johann Sebastian Bachs „Goldberg-Variationen“. Bachs berühmte Klavierübungen mit dem „Aria“-Anfang und -Ende sind fast immer durch drei teilbar. Was wäre also, wenn man das Stück für Soloklavier auf drei Instrumente aufteilt und die Bach’sche Mathematik neu durchmisst?

„Klavierradikalismus“, Weltgeist und Dorfgasthaus können ganz nahe beisammenliegen. Das weiß man seit Thomas Bernhards Roman „Der Untergeher“ aus dem Jahr 1983, veröffentlicht ein Jahr nach dem plötzlichen Tod des kanadischen Klaviervirtuosen Glenn Gould: „Auch Glenn Gould, unser Freund, ist nur 51 geworden, dachte ich beim Eintreten in das Gasthaus“, denkt der Ich-Erzähler, der gerade aus Chur vom Begräbnis seines Freundes Wertheimer zurückgekehrt sein will und sich an die gemeinsame Klavierausbildungszeit von Gould, Wertheimer und ihm selbst Anfang der 1950er Jahre in Salzburg „bei Horowitz“ erinnert.

Die Interpretation der „Goldberg-Variationen“, die Gould ja tatsächlich Ende der 1950er Jahre im Rahmen der Festspiele aufgeführt hatte, wird zum Markstein, die Gould zum Ausnahmegenie gegenüber allen anderen machen soll. „Als wir den Unterricht bei Horowitz beendet hatten, war es klar, dass Glenn schon der bessere Klavierspieler war als Horowitz selbst“, liest man bei Bernhard – und so viel hier zwischen den Dorfgasthäusern und dem Weltvirtuosentum hin und her geflunkert sein mag, folgt doch auch dieser Roman einer Bach’schen Zahlenmystik.

Cover Goldberg Variationen 1955 Glenn gould
Sony
Glenn Gould holte die „Goldberg-Variationen“ aus dem Eck des Esoterischen. 1955 brauchte er für die 32 Teile nur 38 Minuten und 34 Sekunden. Den meisten ist die Einspielung von 1981 im Ohr, die deutlich langsamer ist und 51 Minuten und 18 Sekunden benötigt.

32-mal kommt im Roman von Bernhard das Wort „Goldberg-Variationen“ kursiv gesetzt vor, und 32 ist die Taktzahl des Eingangsstückes „Aria“, das von der Forschung nie eindeutig Bach zugeschrieben werden konnte. Da aber kein Zeitgenosse Bachs 32-taktige Stücke schrieb, beließ man auch das weltweit wohl bekannteste Motiv in der Handschrift des Meisters und vertiefte sich in der Forschung weiter über Bedeutungen der Zahl 32 in diesem Stück.

Von „32 Fundamentalnoten“ hat Bach im Zusammenhang mit den „Goldberg-Variationen“ gesprochen, eines der wenigen Dinge, die man gesichert weiß.

Hinweis

Die „Goldberg Variationen“, quasi dividiert durch drei, sind am Mittwoch im Rahmen des Herbstgold-Festivals in Eisenstadt um 19.30 Uhr mit Julian Rachlin samt Einführung in die Mathematik des Stücks zu hören.

Ein Stück für schlaflose Nächte?

Den Rest hat ja der erste Bach-Biograf, Johann Nikolaus Forkel, beinahe ebenso frei dazuerfunden wie Bernhard das Schülertum von Gould bei seinem Antipoden Horowitz. Für Johann Gottlieb Goldberg habe Bach diese Klavierübungen geschrieben, damit dieser die Stücke dem kranken Grafen Hermann Carl von Keyserlingk in schlaflosen Nächten vorspielen könne – mit dem Haken, dass Goldberg zurzeit der Beendigung der Übungen gerade einmal 14 Jahre war und ob der erforderten Fertigkeiten dieses Stückes ein Wunderkind hätte gewesen sein müssen.

Seite aus dem Untergeher zu den Goldberg Variationen
heid, ORF.at/Suhrkamp
Drei Männer und der „Klavierradikalismus“: bei Thomas Bernhard im „Untergeher“

32 oder doch 30?

Tatsächlich ist die Zahl 32 für die Mathematik der „Goldberg-Variationen“ weniger relevant als die Zahl drei bzw. 30. Denn zieht man das Vorspiel und das Dacapo am Schluss ab, sind die eigentlichen „Goldberg-Variationen“ 30 an der Zahl, die sich wiederum in Dreierabschnitte gliedern. Jedes dritte Stück ist ein Kanon und nach jedem Kanon geht es bis zur Nummer 27 einen Intervallsprung nach oben. Bis zur Variation 30, wo Bach gegen die Ernsthaftigkeit dieses Stücks ein Quodlibet setzt.

Unter Quodlibet verstand man im deutschen Sprachgebiet im 18. Jahrhundert eine spaßhafte bis derbe Zusammenstellung von Volksliedern – „vielleicht“, so der Musikwissenschaftler Siegberg Rampe, „ein arroganter Hinweis des Komponisten an seine Zeitgenossen, dass das Wesen seines Werkes durch konsequente Berechnung allein nicht zu fassen“ sei. Konsequent, so kann man jedenfalls auch den Mozarteum-Schüler Bernhard deuten, muss im Roman durch das Quodlibet eines Gasthauses und entsprechender Gasthausgespräche des Ausnahmekünstlertums gekontert werden.

Aufbau der 30 Goldberg Variationen
heid, ORF.at
Aufbau der 30-plus-zwei-Teile-„Variationen“ (BWV 988). Immer hilfreich: das „Bach-Handbuch“ (Metzler Verlag)

Wenn das Klavierstück zum Trio wird

Für den Violinisten Julian Rachlin, der am kommenden Mittwoch gemeinsam mit Sarah McElravy (Viola) und Boris Andrianov (Cello) Bachs „Goldberg-Variationen“ als Streichtrio im Rahmen des „Herbstgold“-Festivals in Eisenstadt zur Aufführung bringt, bieten die Mathematik und der Aufbau des Werks eine Chance, dessen Klugheit, Schönheit und Leidenschaft hervorbringen zu können.

„Wenn man mit Violine, Viola und Cello arbeitet“, so Rachlin über dieses Werk, das einst für ein zweimanualiges Cembalo komponiert wurde, „dann übernehmen die Instrumente ja verschiedene Funktionen: das Cello den Kontrapunkt beim Bass, die Violine die Melodieführung der rechten Hand“. Aber, so Rachlin, die Viola „als Mittellage“ könne man wie einen Libero einsetzen, um sich durch dieses Stück hindurchzukombinieren.

„‚Die Goldberg-Variationen‘ sind der Gipfel der Bach’schen Kunst, auf die letztlich ja wiederum Beethoven auch mit seinen ‚Diabelli-Variationen‘-Bezug nimmt (dazu Buchstabe D im ORF.at-Beethoven-ABC mit Michael Korstick).“ Die Drei, so Rachlin, verfolge einen in den gesamten „Goldberg-Variationen“, wegen der Kanonanlage, aber auch, weil jede neunte Variation ein Duo sei. Hier könne man zu Dritt kombinieren: „Einmal spielt die Geige mit der Bratsche, einmal die Bratsche mit dem Cello, einmal das Cello mit der Geige.“

Goldberg Variationen als Streichtrio
Deutsche Grammophon
Versuch der „Goldberg-Variationen“ als Trio bei der Deutschen Grammophon 2007

Alle Variationen, so erinnert Rachlin, seien in G-Dur geschrieben, nur drei davon wiederum in G-Moll. Blicke man auf das Gesamtwerk, dann stellten sich die Variationen als „eine Pyramide dar, bestehend aus einem Sockel von 15, einer Mitte aus zehn und einer Spitze aus fünf Variationen“, so Rachlin. Der Sockel der Pyramide etwa ergibt sich durch die Variation 15, die die erste Variation in Moll ist. Der Sprung von Dur auf Moll und von Moll auf Dur ist so ziemlich der größte Gegensatz der in solchen Spielübungen zurzeit Bachs denkbar war.

Mathematik ist dann doch nicht alles

Dennoch, so viel Mathematik in den „Goldberg-Variationen“ stecke, sie seien ein Werk besonderen Ausdrucks, ja Leidenschaft: „Die 25. Variation nennt man die schwarze Perle, weil sie in alle Abgründe des Menschen führe, während die 13. Variation bei uns die weiße Perle heißt, weil sie so viel Kraft und Ausdruck ausstrahlt.“

„Die ‚Goldberg-Variationen‘ sind durch die Mathematik, aber auch die in ihnen angelegten Leidenschaften und Motivvariationen eine absolute Herausforderung an die Physis“, bilanziert Rachlin. Vor diesem Hintergrund kann sich die Forschung bis heute nicht einigen, wer denn eigentlich das Zielpublikum dieser Spielübungen gewesen sein mag. Zwar richten sich einige Variationen an die Möglichkeiten damaliger Dilettanten. Bach, so die Forschung, dürfte aber kaum damit gerechnet haben, dass diese Variationen von den durchschnittlichen Klavierschülern im Ganzen durchgespielt hätten werden können.