Am Montag trafen Carlsen und Niemann bei einem Onlineturnier aufeinander: Der 19-Jährige eröffnete die Partie mit seinem Bauern, Weltmeister Carlsen bewegte den Springer. Als Niemann den nächsten Bauern platzierte, fror Carlsens Kamera ein – kurz darauf brach die Verbindung ab. Die zwei Kommentatoren reagierten fassungslos: „Was ist passiert? Das war’s? Wow, ich bin sprachlos!“
Dass ein derart hochrangiger Spieler eine Partie direkt nach dem ersten Zug abbricht, gilt als absolute Seltenheit, Expertinnen und Experten reagierten schockiert. In sozialen Netzwerken wurde der Abbruch schnell zum viel diskutierten Thema, nicht zuletzt, weil es die nächste Eskalation in dem bereits seit einigen Wochen anhaltenden – großteils wortlosen – Konflikt der beiden Spieler ist.
Denn Carlsen äußerte sich bisher nicht und erhob auch offiziell keine Vorwürfe gegen den aufstrebenden US-Spieler. Diesmal kündigte er schon im Vorfeld des Turniers an, sich nicht äußern zu wollen. Stattdessen ließ er seine Taten für sich sprechen: Der Abbruch wird als Eklat gesehen. Und auch sein Verhalten bei einem Turnier Anfang September sorgte für Stirnrunzeln.
Niederlage des Weltmeisters als Auslöser
Damals begegneten sich die zwei von Angesicht zu Angesicht im US-Bundesstaat Missouri. Zu diesem Zeitpunkt war Carlsen 53 Partien in Folge ungeschlagen – bis er am 4. September auf Niemann traf. Der Amerikaner konnte sich gegen den Norweger durchsetzen – obwohl Carlsen mit Weiß spielte und damit den Vorteil hatte – und damit die Serie beenden. Das Schachportal chess24 sprach damals von einem „atemberaubenden Sieg“.
Unüblich war aber nicht nur der klare Sieg des jungen Spielers über den 31-jährigen Weltmeister, sondern vielmehr die Reaktion des Norwegers. Er zog sich aus dem mit 500.000 US-Dollar dotierten Turnier zurück. Kommentar gab er keinen ab, stattdessen gab es ein kryptisches Posting auf Twitter: ein seit Langem im Netz kursierendes Video von Fußballtrainer Jose Mourinho, der darin „Wenn ich etwas sage, komme ich in Schwierigkeiten“ sagt. Der Generaldirektor des Weltschachbundes, Emil Sutkovsky, merkte an, dass Carlsen noch nie ein Turnier wegen eines schlechten Ergebnisses abgebrochen habe – und deshalb einen „triftigen Grund“ gehabt haben müsse.

Das ließ erstmals die Wogen in der seit Jahren verhältnismäßig ruhigen Schachwelt hochgehen. Auch wenn er es nicht direkt ausgesprochen hatte – Zweifel gibt es keine daran, dass er dem Newcomer Betrug vorwirft. Beweise gibt es dafür bisher keine, aber auch andere Schachprofis wie Hikaru Nakamura stellten in den Raum, dass Niemann Hilfe von außen gehabt haben könnte.
Rätselraten über Schummelmethode
Mediale Bekanntheit erlangte der Schachkrimi aber erst, als über die Frage, wie Niemann geschummelt haben könnte, spekuliert wurde. Tatsache ist: Durch Entwicklungen auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz sind Schachcomputer menschlichen Spielerinnen und Spielern überlegen, die Hilfe von einem Computer könnte also zu einem entscheidenden Vorteil werden.
In Foren wurde in den Raum gestellt, dass Niemann etwa über vibrierende Analkugeln die nächsten Züge mitgeteilt bekommen haben könnte. Das Gerücht zog seine Runden – und wurde schließlich selbst von Profischachspielern diskutiert. Das löste eine breite Debatte über Betrug im Schachsport aus.
Im Gespräch mit FM4 sagte der österreichische Schachgroßmeister Valentin Dragnev, dass, „so lächerlich wie sie klingt“, im Prinzip diese „Theorie trotzdem durchführbar sein könnte“. Im Schach basiere bisher jedenfalls „sehr viel auf Vertrauen“. Anhand von Spielzügen ließe sich oft erahnen, ob ein „Zug ‚menschlich‘ oder ‚unmenschlich‘ sei“ – mehr dazu in fm4.ORF.at. Betrug lässt sich jedenfalls nicht leicht beweisen.
Niemann will im Zweifel nackt spielen
Niemann ließ die Vorwürfe aber nicht auf sich sitzen: „Wenn sie wollen, dass ich mich völlig nackt ausziehe, werde ich es tun. Es ist mir egal. Denn ich weiß, dass ich sauber bin“, so der Schachspieler in einem Interview nach seinem Sieg gegen Carlsen. Skepsis herrscht vor allem deshalb, weil Niemann zugegeben hatte, in der Vergangenheit bei Onlineturnieren betrogen zu haben – allerdings im Teenager-Alter. Seither, beteuert er, habe er nie wieder geschummelt.
Steile Karriere des Newcomers
Nun fühlt er sich deshalb zu Unrecht verfolgt und beklagte online eine Rufmordkampagne gegen ihn. Auffallend ist aber auch Niemanns steile Karriere – in weniger als zwei Jahren verbesserte sich seine Elo-Zahl, also seine Spielstärke, deutlich. Kritiker wollen darin den Beweis sehen, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugehen kann.
Doch Niemann hat auch Unterstützer: So sagte etwa Schachlegende Garri Kasparow, dass Niemann sehr wahrscheinlich „sauber“ spiele. Viele sehen in Carlsens Reaktion auch eine Trotzreaktion darauf, dass er von einem derart jungen Spieler geschlagen worden sei. Eines steht jedenfalls fest: Die Schachwelt wird in den kommenden Wochen deutlich mehr Aufmerksamkeit bekommen, ein Ende des Zwists zeichnet sich zum derzeitigen Zeitpunkt nicht ab.