Menschen vor der Kreml-Mauer
Reuters/Evgenia Novozhenina
Moskaus Mobilmachung

Riskantes Manöver einer Atommacht

Die erfolgreichen ukrainischen Gegenschläge haben den Kreml zuletzt in die Bredouille gebracht. Bilder zurückgelassenen russischen Geräts gingen um die Welt – sie waren symbolisch für die überraschende Niederlage Moskaus. Die Reaktion Russlands: eine Teilmobilmachung seiner Streitkräfte und die Unterstützung von Scheinreferenden zur Annexion russisch besetzter Gebiete in der Ukraine. Doch was hat das zu bedeuten?

„Wenn die territoriale Integrität unseres Landes bedroht wird, werden wir zum Schutz Russlands und unseres Volkes unbedingt alle zur Verfügung stehenden Mittel nutzen. Das ist kein Bluff.“ Mit jenen Worten verkündete der russische Präsident Wladimir Putin in einer voraufgezeichneten Fernsehsprache, die am Mittwoch ausgestrahlt wurde, den umgehenden Beginn einer Teilmobilmachung.

Laut Verteidigungsminister Sergej Schoigu werden 300.000 Menschen für das Militär mobilisiert. Eingezogen werden sollen – vorerst – Reservisten mit militärischer Erfahrung. Diese würden den gleichen Status und die gleiche Bezahlung bekommen wie die jetzigen Vertragssoldaten und vor dem Fronteinsatz noch einmal militärisch geschult. Insgesamt gebe es zwei Millionen Reservisten in Russland. Russland will mit der Teilmobilmachung vor allem die Personalprobleme an der Front lösen.

Putin kündigt Teilmobilmachung an

Kreml-Chef Wladimir Putin kündigte eine Teilmobilmachung der russischen Truppen an, von 300.000 zusätzlichen Soldaten an der Front ist die Rede. Wieder einmal griff Putin den Westen rhetorisch an und drohte indirekt mit dem Einsatz von Atomwaffen.

Hochriskanter Schritt

Über eine Generalmobilmachung und auch eine Teilmobilmachung wurde die letzten Wochen immer wieder spekuliert. Klar war immer, dass eine Mobilmachung einen hochriskanten Schritt darstellt. Putin sprach und spricht nämlich nach wie vor von einer „Spezialoperation“ in der Ukraine. Tatsächlich aber trifft die Entscheidung, Männer für den Kriegsdienst einzuziehen, nun unmittelbar die Bevölkerung. Die mehrheitliche Unterstützung für die „Spezialoperation“ im Land – die zumindest mehrere Umfragen belegt hatten – könnte Putin somit abhandenkommen.

Russlands Opposition rief bereits zu Protesten auf. Kurz nach Verkündung der Mobilmachung kursierten überdies Berichte über einen Ansturm auf One-Way-Flugtickets. Statistiken von Google Trends zeigen einen sprunghaften Anstieg der Suchanfragen nach Aviasales, der beliebtesten russischen Website für den Kauf von Flügen.

Russen im wehrpflichtigen Alter müssen sich laut aktuellem Gesetz „Über die Mobilmachung in Russland“ nämlich fortan an ihrem Wohnort aufhalten – die Reisefreiheit wird eingeschränkt. Der russische Aktienmarkt erlebte indes seinen stärksten Einbruch seit dem Kriegsbeginn am 24. Februar.

ORF-Korrespondent zur Teilmobilmachung

Paul Krisai (ORF) erläutert, was die vom russischen Präsidenten angekündigte Teilmobilmachung der Truppen für den Krieg in Europa bedeutet und ob sich die Menschen in Russland der Propagandamaschinerie entziehen können.

„Mobilisierung wird Krieg verlängern“

Militärexperten und Politikwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler sehen in der Entscheidung jedenfalls eine weitere Eskalation: „Die Erfolge der Ukraine haben das Pendel der Möglichkeiten für die russische Führung in die eskalatorische Richtung ausschlagen lassen“, sagte Oberst Berthold Sandtner im Gespräch mit der APA.

Putin sei einerseits innenpolitisch unter Druck geraten, härter in der Ukraine vorzugehen. Andererseits sei Russland schon bisher keinen Millimeter von seinen strategischen Zielen die Ukraine betreffend abgerückt. Die Teilmobilmachung sei damit eine weitere Eskalation und Zeichen dafür, dass dieser Konflikt noch lange dauern werde. „Die Mobilisierung wird den Krieg jedenfalls verlängern“, sagte auch der Militärexperte und Leiter des Thinktanks Rochan Consulting, Konrad Muzyka, im Ö1-Interview.

Viele Details unklar

Im Detail ist noch vieles unklar – und damit wird schon jetzt spekuliert, dass künftig weit mehr Männer rekrutiert werden könnten als bisher verkündet. Einem BBC-Bericht zufolge stehe in dem von Putin unterzeichneten Dekret nirgends geschrieben, dass die Mobilmachung auf 300.000 Mann beschränkt wird.

Es stellt sich auch die Frage, wann und wofür genau die neuen Soldaten eingesetzt werden. Laut Sandtner könnten kurzfristig Lücken in den bestehenden Verbänden geschlossen werden, vielleicht auch Soldaten, die seit Monaten im Einsatz stehen, ausgetauscht werden, und auch neue Einheiten aufgestellt werden. Letzteres würde Monate dauern, sagte Sandtner.

Es müssen die Reservisten einberufen, zu militärischen Einheiten formiert und deren Feldverwendungsfähigkeit durch Ausbildungsmaßnahmen zumindest zu einem gewissen Grad hergestellt werden. Das benötigte Gerät müsste großteils aus der Langzeitkonservierung geholt werden. „Erschwerend kommt dazu, dass derzeit der Großteil des russischen Berufsmilitärs in der Ukraine im Einsatz ist.“ Diese Männer fehlen für die Mobilmachung, denn sie müssten die Reservisten formieren und ausbilden.

Zweifel an Moral neuer Soldaten

Muzyka schätzt, dass ein erster Teil der einberufenen Männer bereits in vier, fünf Wochen an der Front sein könne. „Russland versucht durch Einberufung sein größtes Defizit zu beheben, und das ist nicht die militärische Ausrüstung, sondern schlicht und einfach die Mannstärke. Diese Burschen werden wohl als Erstes bei der Infanterie eingesetzt werden, etwa, um Gelände zu halten, Stellungen zu graben, Städte einzunehmen.“ Muzyka bezweifelt auch, dass die Moral der neuen Soldaten besonders groß sei.

„Eine großangelegte Wehrpflicht würde die Fähigkeit des russischen Verteidigungsministeriums, neue Soldaten einzuziehen, auszubilden und auszurüsten, höchstwahrscheinlich überfordern“, hatte zuletzt auch der US-Thinktank Institute for the Study of War vermutet. Allein die Ausbildung wäre zeitaufwendig, zudem wäre die „Beschaffung der notwendigen Ausrüstung, Munition und des Nachschubs für eine große Wehrpflichtigenarmee“ angesichts der berichteten russischen Materialengpässe „sehr schwierig“.

Folgen hat die russische Entscheidung freilich auch für die Strategie der ukrainischen Truppen: Laut Sandtner muss nun die ukrainische Seite zusätzliche Soldaten mobilisieren und ausbilden. Muzyka schätzt das Mobilisierungspotenzial der Ukraine auf 200.000 bis 300.000 zusätzliche Männer.

Ukraine spottet, Westen ortet Schwäche

Die Ukraine und viele andere Staaten sahen in der Anordnung jedenfalls den Beweis dafür, dass die russische Operation alles andere als rund läuft. Putin wolle „die Ukraine in Blut ertränken, aber auch im Blut seiner eigenen Soldaten“, meinte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. „Läuft immer noch alles nach Plan oder doch nicht?“, schrieb der ukrainische Präsidentenberater Mychailo Podoljak auf Twitter. Der für „drei Tage“ geplante Krieg dauere bereits 210 Tage.

Nach Ansicht der EU sind die Ankündigungen ein Zeichen der Verzweiflung Putins. Der deutsche Kanzler Olaf Scholz ortete als Grund für die Teilmobilmachung Misserfolge im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine.

Auch die britische und amerikanische Regierung bezeichneten den Schritt als Signal der Schwäche: „Dass Putin sein eigenes Versprechen, nicht zu mobilisieren, bricht, und die illegale Annexion von Teilen der Ukraine sind das Eingeständnis, dass seine Invasion scheitert", sagte der britische Verteidigungsminister Ben Wallace. Bundespräsident Alexander Van der Bellen reagierte mit einem Aufruf zur „europäischen Geschlossenheit und Entschlossenheit“.

Annexion besetzter Gebiete nach Scheinreferenden droht

In seiner Rede kündigte Putin zudem die mögliche Annexion ukrainischer Gebiete mit Hilfe der Referenden in den besetzten Gebieten an. „Die Entscheidung, die die Mehrheit der Bürger in den Volksrepubliken Luhansk und Donezk, in den Gebieten Cherson und Saporischschja treffen, unterstützen wir“, sagte Putin.

Neben den selbst ernannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk in der Ostukraine wollen auch die kremlnahen Verwalter der von Russland besetzten Gebiete Cherson und Saporischschja im Süden über einen Beitritt zu Russland abstimmen lassen. Zudem kündigte Russland an, das Referendum in Cherson auf Teile des Gebiets um Mykolajiw auszudehnen. Die Scheinreferenden sollen von 23. bis 27. September abgehalten werden. Sie gelten ebenso als Reaktion auf die aktuelle ukrainische Gegenoffensive im Osten des Landes.

Sorge vor Einsatz von Nuklearwaffen

Nach den Referenden könnte Moskau die besetzten Gebiete annektieren. Damit würde der Konflikt weiter eskalieren. Moskau könnte dann gemäß der eigenen Doktrin Atomwaffen einsetzen bzw. Putin mit deren Einsatz drohen. Laut russischer Doktrin dürfen Nuklearwaffen nur zur Selbstverteidigung eingesetzt werden. Das wäre rein formell der Fall, sobald die ukrainischen Gebiete annektiert werden.

Auf ähnliche Weise hatte Russland 2014 die ukrainische Schwarzmeer-Halbinsel Krim annektiert. International wurde die Abstimmung nicht anerkannt. Auch diesmal ist eine Anerkennung nicht in Sicht. Der Westen hatte schon 2014 mit Sanktionen reagiert. Allerdings hat Russland seinerseits stets betont, sich durch die Strafmaßnahmen der EU und der USA nicht von seinen Zielen in der Ukraine abbringen zu lassen.

Ukraine droht mit schweren Strafen

Vor dem Hintergrund der bevorstehenden Scheinreferenden hat die Führung in Kiew ihre Landsleute vor einer Abstimmung gewarnt. „Jedwede Beteiligung an den ‚Referenden‘ wird als Verletzung der territorialen Integrität der Ukraine gewertet“, schrieb Podoljak noch am Dienstagabend auf Twitter. Zuvor hatte das ukrainische Außenministerium in einer Erklärung die Organisation der Scheinreferenden für strafbar erklärt.

Auch Vizepremierministerin Iryna Wereschtschuk rief dazu auf, die Abstimmung zu ignorieren – „und damit der Armee und sich selbst zu helfen“. Wer einen russischen Pass beantrage, müsse mit bis zu 15 Jahren Haft rechnen, sagte sie im ukrainischen Fernsehen.